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Die Erlaubnis zu hassen

Die Erlaubnis zu hassen

Agentur für Bildbiographien Susanne Gebert
07.05.2017, 13:12 Uhr

In ihrem Buch "Am Anfang war Erziehung" beschreibt Alice Miller die Kindheit und Jugend Adolf Hitlers als Sohn eines ‚erziehenden‘ und prügelnden Vaters und einer liebenden, aber hilflosen Mutter. Aber was begeisterte Millionen Menschen an Adolf Hitler, warum folgten sie ihm und wurden zum Teil selbst zu Verfolgern? „Verfolgen beruht auf abgewehrtem Opfersein“, lautet eine von Millers Kernthesen: Hitler gab vielen seiner Anhängern die Opfer, die sie brauchten – und die Erlaubnis zu hassen.

„Wenn Hitler Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen zu nennen.“
Joachim Fest, Hitler Eine Biographie

Aus der Sicht jener Zeit gab es viele gute Gründe, Adolf Hitler und den Nationalsozialisten zu folgen.

Viele Deutschen glaubten nach wie vor an die 1918 von Hindenburg ersonnenen ‚Dolchstoß-Legende‘ – die im 1. Weltkrieg eigentlich unbesiegten deutschen Soldaten wären erst durch die Sozialisten, die das Vaterland verraten hätten, in die Knie und zum Waffenstillstand gezwungen worden.
Die Deutschen, ihr Kaiser mitsamt seinen Schiffen und seinem stolzen Militär als Verlierer? Undenkbar!

Mit dieser Grundidee im Gepäck war alles, was danach kam, zum Scheitern verurteilt:
Der von großen Teilen der Bevölkerung als schändlich empfundene (und in vielen Aspekten unkluge) Versailler Vertrag ebenso wie die erste Demokratie auf deutschem Boden, die Weimarer Republik.
Die hatte nie einen guten Stand, weder bei den Rechten noch den Linken. Für die Weimarer Repuplik gab es viele, die sie kritisierten und bekämpften (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen), Befürworter und Verteidiger hatte sie wenige.

Vielleicht hätten Republik und Demokratie eine Chance gehabt, wenn sich der wirt- schaftliche Aufschwung, der ab Mitte der 1920er Jahre auch in Deutschland für Wohlstand sorgte, fortgesetzt hätte.

Das tat er nicht.
Die katastrophale Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 und ihre Folgen wurden zum Fanal, nicht nur für die Deutschen, sondern auch für viele andere Demokratien auf der ganzen Welt.

Das Phänomen ‚Hitler‘


Sebastian Haffner beschreibt in seinen ‚Anmerkungen zu Hitler‘ (1978) eine Stimmung in Deutschland vom Frühjahr 1938 bis zum Frühjahr 1939, in der sich Hitler-Gegner fragten, ob nicht sie im Unrecht wären und er recht hätte.

In dieser Zeit scheint Hitler und den Nationalsozialisten alles zu gelingen.
Ende der 1930er Jahre sollen mehr als 90 Prozent der Deutschen begeisterte Hitler-Anhänger gewesen sein, schließlich hatte jeder, der arbeiten wollte und konnte, nach den Jahren des Hungers, der Unsicherheit und beispielloser Armut wieder Lohn und Brot (bis auf die, die ausgegrenzt, ermordet oder verhaftet worden waren oder in der Emigration lebten).

Millionen neuer Arbeitsplätze waren in Rekordzeit entstanden.
Niemand fragt danach, woher die neuen Jobs kommen.
Dass viele der neugeschaffenen Arbeitsstellen in der Rüstungsindustrie und im Straßenbau entstehen und zur Kriegsvorbereitung dienen, dass sie auf Pump finanziert werden und die Staatsverschuldung des Dritten Reiches in astronomische Höhen schießt, so hoch, dass sie realistisch gesehen nur mit Hilfe eines gewonnenen Krieges bezahlbar ist – wer will das schon so genau wissen, wenn es endlich wieder aufwärts geht?

Auch außenpolitisch jagt das wirtschaftlich scheinbar blühende Dritte Reich von einem Erfolg zum nächsten.
Österreich und das Sudetenland kehren „heim in Reich“, die Drohgebärden, mit denen man der Weltgemeinschaft ein Zugeständnis nach dem anderen abtrotzt, gelingen.
Mit Hitler stehen die Deutschen plötzlich nicht mehr als Kriegsverlierer da, sondern als Nation von Siegern. Die, die sich zur „deutschen Volksgenmeinschaft“ zählen, jubeln.
Hitler lässt Briten, Franzosen und den Rest der Welt mit ihrer Appeasement- oder Nicht-Einmischungs-Politik einfach schlecht aussehen.

Das beeindruckt auch im Ausland: Viele Politiker in Europa und in den USA bestaunten das Phänomen ‚Hitler‘ halb sorgenvoll, halb bewundernd. In deutschen Nachbarländern ist Hitler populär, Faschismus ist in vielen Ländern der Erde salonfähig geworden und hat eine wachsende Anhängerschaft.

Die Bewunderung kennt oft keine Grenzen: Zur Eröffnung der Olympiade 1936 in Berlin ziehen die Sportler der französischen Delegation mit dem Hitlergruß ins Stadion ein, 1939 erklärt das amerikanische Nachrichtenmagazin Time Hitler zum „Mann des Jahres“.
Die Begründung für diese Wahl lautete, dass er im Jahr zuvor, also 1938, den Gang der Ereignisse (die „Sudetenkrise“ und das Münchner Abkommen) am stärksten beeinflusst und die meisten Schlagzeilen verursacht hatte.
(Eine Begründung, die im Jahr 2001 auch auf Osama bin Laden zugetroffen hätte, der wurde allerdings nicht zum „Mann des Jahres“ gewählt.)

Am Anfang war Erziehung


Die Begeisterung für ein System, dass binnen weniger Jahre ein zerrissenes Land am Rande eines Bürgerkriegs in eine blühende „Volksgemeinschaft“ verwandelt hat, mag nachvollziehbar sein.
Trotzdem kann es Millionen Menschen nicht aufgefallen sein, dass sie dafür den Preis zahlen mussten, in einer Diktatur zu leben.
Dass jüdische Nachbarn, unliebsame Politiker, Journalisten und Künstler einfach „verschwanden“, dass nicht nur der Reichstag, sondern auch Bücher brannten, dass Menschen aus KZs zurückkamen und über die Lager berichteten.

Das nahm „man“ als „guter Deutscher“ einfach so hin?

In ihrem Buch Am Anfang war Erziehung beschreibt die Schweizer Autorin und Psychoanalytikerin Alice Miller die Kindheit und Jugend Adolf Hitlers als „erzogenes Kind“ eines tief gestörten und prügelnden Vaters und einer liebevollen, aber hilflosen Mutter: Vom verborgenen zum manifesten Grauen
„Erziehung“ durch schwarze Pädagogik, so wie sie in dieser Zeit von vielen Eltern (und Lehrern) praktiziert wurde, kann Menschen krank machen und ihr gesamtes weiteres Leben belasten.

Doch brutale Erziehungsmethoden schädigen nicht nur das Kind – möglicherweise ein Leben lang und mit fatalen Folgen –, die Methoden und Prinzipien der Schwarzen Pädagogik können sich laut Miller auch „vererben“.

Beispielsweise wenn sie im Erwachsenenalter als Eltern an die eigenen Kinder weitergegeben werden.
Oder als Politiker – wie Adolf Hitler – an das Volk.

Adolf Hitlers Kindheit und Jugend waren weder besonders ungewöhnlich noch unterschieden sie sich wesent- lich von denen, die Millionen andere erleben und erdulden mussten.
Doch schlimmer als Schläge und Härte, die Hitler vermutlich regel- mäßig von seinem jähzornigen und herrischen Vater kassierte, war – laut Miller – ein weiterer Aspekt, der die Wirkung von Prügelei und De- mütigungen potenziert:
Die Opfer müssen schweigen.

Das „Gebot zur Schonung der Eltern“, wie es Alice Miller bezeichnet, verbietet dem ‚Erzogenen‘, an der Haltung und den Maßnahmen ihrer Erzieher zu leiden oder gar zu zweifeln.

Kinder wachsen damit in dem Glauben auf, dass das, was ihnen an Strafe widerfahren ist, völlig rechtens und von ihnen selbst durch ‚Unartigkeit‘ provoziert worden ist.

Das Erbe der Erziehung


Kinder haben, so Alice Miller, ein natürliches narzisstisches Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Von klein auf möchten sie als das Zentrum der eigenen Aktivität gesehen, beachtet und ernst genommen werden, im Idealfall ist die Mutter der Spiegel ihrer Gefühle, bei der sie ohne Verlustangst auch negative Stimmungen wie Angst, Zorn oder Trauer ausleben können.
Besondere Erziehungsmaßnahmen sind laut Miller für die glückliche und gesunde Entwicklung eines Kindes nicht notwendig; es genügt, wenn es als eigenes Wesen wahrgenommen wird und so, wie es ist, gestützt und gefördert wird.

Ein Kind muss die Möglichkeit haben, seine Eigenart und Besonderheit ausleben zu dürfen (mit Respekt, aber auch mit Anleitung: Alice Miller war erklärte Gegnerin der sogenannten „antiautoritären Erziehung“).
Erst das Ausprobieren der eigenen Bedürfnisse und Gefühle, fördert beim Kleinkind ein gesundes Selbstempfinden und im späteren Leben echtes soziales Verhalten.

Kindliches Fehlverhalten und psychosomatische oder psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter entstehen, so Alice Miller, häufig durch jahrelange (oft unbewusst erlebte) Erziehung, die die Persönlichkeit eines Kindes missachtet.
Besonders negativ wirken sich Schläge und Beschimpfungen als alltägliche Erziehungsmaßnahmen aus.

Die Erlaubnis zu hassen


Das Verbot, an ‚Erziehung‘ und ihren Vollstreckern leiden zu dürfen, kann bei den Betroffenen zu Verdrängung und Leidens-Unfähigkeit führen: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ wird zur Lebensmaxime.

Aber gerade Härte und Schläge gehörten viele Jahrhunderte lang zum guten Ton in der Kindererziehung – schließlich wollte man seine Kinder nicht „verzärteln“ oder verweichlichen, sondern auf die „Härten des Lebens“ vorbereiten.

Was macht ein Kind, das den Maßnahmen seiner Erzieher ausgeliefert ist und darüber zu schweigen hat?
Ein Kind, das unter seiner ‚Erziehung‘ sehr wohl leidet, gleichzeitig aber lernt, dass dieses Leiden ungerechtfertigt ist, und es selbst „schuld“ an seiner Bestrafung hat, weil es ‚ungezogen‘ war?

„Es gibt unzählige ‚Techniken‘, damit umzugehen“, schreibt Alice Miller, doch oft bleibe dem Kind keine andere Wahl, als das Trauma zu verdrängen (Abspaltung) und die Täter zu idealisieren.

Eine weitere ‚klassische‘ Reaktion sei die Wiederholung und Neu-Inszenierung der be- kannten Kindheitsmuster, allerdings mit anders besetzten Rollen.

Demütigungen und Ungerechtigkeiten, denen man nicht entkommen kann, machen wütend.
Wut und Aggressionen dürfen aber nicht zurück an den Absender, denn es ist verboten Eltern oder Lehrern negative Gefühle entgegenzubringen.
Berlin, NS-Boykott gegen jüdische Geschäfte

Also muss ein anderer dafür herhalten: Ein Sündenbock als Ersatz wird gesucht, ein Schwächerer, für den es eine ‚Erlaubnis zu hassen‘ gibt.

Miller sieht hier eine der Wurzeln für Hitlers Aufstieg und Popularität, denn schließlich waren die Methoden der Schwarzen Pädagogik, weit verbreitet und viele hatten eine Kindheit erlebt, die der Adolf Hitlers nicht unähnlich war.

Adolf Hitler, so Alice Miller, hat sich sein Kindheitsmuster mit einem totalitären Staat, in dem das Schicksal der Schwächeren von den Stimmungen und Launen eines un- umstrittenen Herrschers abhing, wieder erschaffen, allerdings mit neuer Rollenverteilung.

Doch zum manifesten Grauen konnte sein System erst werden, weil Millionen anderer unter ähnlich brutalen Bedingungen aufgewachsen waren wie er selbst.
Für viele verkörperte er einerseits den lang ersehnten „guten Vater“, gleichzeitig bediente er sich eines jahrhundertealten „Sündenbocks“, für den es seit Menschengedenken die „Erlaubnis zu hassen“ gab.

Alice Miller schreibt:
„Wie wir wissen, eignet sich fast jedes Gedankengut dazu, den in der Kindheit misshandelten Menschen als Marionette für die jeweiligen persönlichen Interessen der Machthaber zu gebrauchen. Auch wenn der wahre ausbeuterische Charakter der verehrten und geliebten Führer nach deren Entmachtung oder Tod zu Tage tritt, ändert das kaum etwas an der Bewunderung und bedingungslosen Treue ihrer Anhänger. Weil er den ersehnten guten Vater verkörpert, den man nie hatte.“
Alice Miller, Dein gerettetes Leben

Den vollständigen Artikel mit allen Darstellungen und weiterführenden Leseempfehlungen ist in meinem Blog Generationengespräch zum Nachlesen: Die Erlaubnis zu hassen

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