Oder wie auch ein Wochenmagazin ziemlich daneben liegen kann
Sie füllen eine ganze Stadt, dieses Jahr sogar zwei Städte: Berlin und Wittenberg. In U- und Straßenbahnen bieten sie ungebeten Seniorinnen und Senioren einen freien Platz an. Sie singen, was die Lunge hergibt. Lieder, die in jedem Eurovision Contest durchfallen würden, noch ehe auf den letzten Platz zu landen. "Eine feste Burg ist unser Gott", so dass auch Berliner Atheisten und säkularen Nörglern Hören und Sehen vergeht. Der EKD-Vorsitzende Bedford - Strohm und Margot Käßmann lächeln um die Wette, dass selbst Meteorologen wieder zum Gebet in höheren Sphären finden.
Der Kirchentag und seine Teilnehmer - das Top-Event des Protestantismus und heuer 500 Jahre Reformation. Die ZEIT, das Hamburger Wochenmagazin, schreibt vom "Club der Gutmenschen" als sei da eine alternative Flüchtlingswelle zu befürchten, der sich auch die Bundeskanzlerin gerne anschließt. In einer Zeit, in der der Populismus die politische Kultur europäischer Länder mühelos vergiftet, findet auch eine liberale Zeitung, dass so viele "Gutmenschen" in Messehallen versammelt, irgendwie doch des Guten zu viel sind. Der Bischof wandert und wandelt durch die Menge, wie seinerzeit Mose trockenen Fußes durch das Rote Meer. Fehlt noch, dass die Berliner und Wittenberger des Morgens ihr Wasser in Wein verwandelt vorfinden. Das alles schaffen evangelische "Gutmenschen" mit links, und sogar der Ex-US-Präsident Barak Obama soll mit von der Partie sein, neben der Pfarrertochter aus der Uckermark natürlich. Es scheint, dass von jeglicher Religion unberührte Zeitgenossen sich verwundert die Augen reiben, dass es so etwas überhaupt noch geben dürfte. Sperrt man gemeinhin nicht artig den Glauben ins Private zwischen Nostalgieplunder und Seniorenkränzchen - und dann auf einmal so viel junge Leute? Nicht zu glauben. Das christliche Abendland legt eine Nachtschicht ein.
"Gutmenschen" nerven. Christinnen und Christen auch. Der Kirchentag wird in Hunderten von Veranstaltungen, Vorträge, Bibelarbeiten, Gottesdienste, Diskussionen und Ausstellungen den Nerv der Zeit bearbeiten und ja - auch, die Bibel zu Rate ziehen. Es ist ein buntes Fest und sie verstehen zu feiern, dass selbst karnevalserprobten Katholiken warm ums Herz wird.
Braucht das unsere moderne, säkulare Gesellschaft, die Religion heute mehr mit dem Islam verbindet, als dass sie noch die eigene religiöse Herkunft kennt? Ist die Brüchigkeit der Moderne nicht allzu offensichtlich, dass wir uns leisten können, über die Verletzlichkeit des Menschen und der Umwelt nonchalant hinweg zu sehen? Sind "Gutmenschen" nicht Erinnerungsagenten, die häufig selbst unter ihrer Ohnmacht leiden?
Nach uns die Sintflut! Der Wahlspruch der "schrecklichen Kinder der Neuzeit, deren Nachkommen und Erben wir sind - wie der Philosoph Peter Sloterdijk diagnostizierte, ist eben nicht das letzte Wort der Epoche. Das ist gut protestantisch. Der Mensch ist nicht so gut, wie er sich selbst gerne sieht. Das Etikett hält nicht. Den Gutmenschen gibt es gar nicht. Selbst, wenn er singt und betet und Senioren Plätze anbietet, die diese gar nicht beanspruchen. Die Bibel weiß das, Luther wusste es , nur der Neo-Liberalismus bedarf der Nachhilfe. Aber vielleicht ist er ja noch lernfähig und so mancher Journalist, der sich mit dem Kirchentag beschäftigen muss, auch.
(c)ThomasBernhard2017.
213 Kommentare