Wenige Persönlichkeiten im öffentlichen Leben haben eine solche Ausstrahlung wie dieser 80-jährige Mönch, der 6 Millionen Tibetern als die 14. Reinkarnation Buddhas gilt.
Als Zweijähriger bestand er die Tests, als er den Namen des Mönchs erriet, der mit einer Gruppe von anderen auf der Suche nach dem nächsten Dalai Lama war. Außerdem erkannte er die Gegenstände seines Vorgängers.
Er bestand aber nicht nur diese Prüfung.
Es folgten schicksalhafte Fügungen:
- die Trennung von seiner Mutter im Alter von 2 Jahren,
die Übernahme der politischen und spirituellen Führung im Alter von 15 Jahren
- die Flucht aus seiner Heimat 1959, 24-jährig, nach Indien.
80 000 Tibeter flohen, 6000 buddhistische Klöster wurden zerstört, mehr als eine Million Tibeter wurden getötet.
Ein Leben im Exil – ohne Klage. Anklagen wurden als 'karmische Folgen' entschärft.
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Und nun, in diesem von Krisen geschüttelten Jahr 2015 richtet er einen erstaunlichen Appell an die Welt, an die Menschen, die Religion missverstehen, falsch interpretieren, ihr vorhandenes „Gewaltpotential“ in die Praxis umsetzen.
Er spricht von „säkularer Ethik“ - Franz Alt, sein Gesprächspartner, setzt das mit Albrecht Schweizers „Ehrfurcht vor dem Leben“ gleich – und plädiert für einen frühen Ethikunterricht an allen Schulen.
Darunter versteht er ganz spezifisch „Achtsamkeit, Mitgefühl, Geistesschulung und das Streben nach Glück“.
Ethik würde das Bewusstsein des Gemeinsamen stärken; das sei wichtiger als das ständige Hervorheben von Trennendem.
Wie alle spirituellen Lehrer redet der Dalai Lama oft in Gleichnissen oder gebraucht anschauliche Metaphern. So ist die Ethik für ihn Wasser und die Religion Tee, und er erklärt, dass die Menschen Wasser zum Leben brauchen, den Tee aber nicht unbedingt.
Oft zitiert er Mahatma Gandhi, der darauf hingewiesen habe, dass wir selber die Veränderung sein müssten, wenn wir die Welt verändern wollten. Möglich sei dies nur durch liebevollen Dienst, niemals durch Gewaltanwendung oder gar Krieg.
Er kritisiert Waffenlieferungen und nennt die Dinge beim Namen: „Ich verstehe auch nicht, dass Deutschland und Frankreich zu den wichtigsten Waffenexporteuren der Welt gehören.“ (S: 37f.)
Krieg gehöre nicht mehr in das 21. Jahrhundert, das das Jahrhundert des D i a l o g s sei.
Natürlich gäbe es bei 7 Milliarden Menschen zwei Gruppen, Feinde und Freunde. Am meisten lerne man von Feinden. Gewaltfreiheit präzisiert er als „intelligente Feindesliebe“.
Franz Alt spricht in dem Interview auch die Rolle der Geschlechter im 21. Jahrhundert an. Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung seien eine wichtige Voraussetzung für eine bessere Welt, und gerade hier hätten die Religionen dringenden Nachholbedarf.
Denn Frauen seien, fügt er hinzu, den Männern „bei der Entwicklung innerer Werte etwas voraus“. (S. 32).
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Ich finde es sehr mutig, dass der Dalai Lama den Gedanken der Ökumene, die den Dialog der Religionen untereinander fördern will, noch ausweiten möchte.
Er bezeichnet es als Hauptaufgabe der Menschen in unserer Zeit, dass Atheisten, Agnostiker und Anhänger aller Religionen eine gemeinsame positive EInstellung zueinander gewinnen sollten. Spürt er vielleicht die zunehmende Verhärtung der Fronten, die Drohgebärden politischer Führer, die Zunahme der Gewalt in der ganzen Welt, den Zerfall moralischer Werte?
Feinde existieren jedoch nicht in seiner Vorstellung. Alle Menschen seien Brüder und Schwestern, und für die kommunistischen Führer in Peking b e t e er.
Die Botschaft des Dalai Lama ist es wert, gehört zu werden. Vielleicht könnte sie auf der Schwelle zum neuen Jahr unser Vorsatz werden.
Das würde er sicher mit einem entwaffnenden Lachen begleiten.
Lit: Der Appell des DALAI LAMA an die Welt – Mit Franz Alt. 4. Aufl. 2015.
© Edith Zeile
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