Mit "Mutterliebe" hat der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau nichts im Sinn, als er 1762 seinen Roman "Emile oder über die Erziehung" publiziert. Eigentlich will er ein Zeichen gegen die festzementierte absolutistische Ständegesellschaft setzen, die ihn anwidert, und im Übrigen hält er Erziehung für viel zu wichtig, um sie Frauen zu überlassen.
Rund 40 Jahre später ist Rousseau posthum zum Helden der Französischen Revolution geworden und "Emile" zur Grundlage moderner Erziehung.
Was bisher geschah:
In der Antike und im Mittelalter schenkte man weder Müttern noch Kindern besondere Beachtung.
In der Wiege unserer Zivilisation, im alten Griechenland, gibt es keine Doppelbelastung für Mütter und von einer weiblichen Sinnkrise kann auch keine Rede sein: Auf mütterliche Gefühle wird schlicht und ergreifend verzichtet.
Am liebsten würden die Patriarchen, für die die Liebe zwischen Männern das höchste ihrer Gefühlswelt ist, ihre Kinder (Söhne) selbst zur Welt bringen.
Wie so vieles Andere übernehmen die Römer das sehr schnörkellose Verhältnis der Griechen zu Kindern und Frauen (die Männerliebe dagegen nicht) und sorgen für seine Verbreitung.
Bis weit ins Mittelalter spielte Mutterliebe keine besondere Rolle in Europa.
Hatten Frauen in der Antike schon keinen leichten Stand, so gebären Christentum und Kirche im Frühmittelalter ein Konzept, das ihnen das Leben noch schwerer macht: das der Erbsünde.
Dem Kirchenlehrer Augustinus (354 – 430) und anderen Klerikern war aufgefallen, dass es Eva war, die Adam den vergifteten Apfel reichte - und damit die Vertreibung aus dem Paradies verschuldet hat.
Das Fazit: Menschen sind schlecht und von Geburt an Sünder, Frauen sind noch schlechter.
Erst im Hochmittelalter, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, ändert sich die Ein- stellung zu Mutter und Kind; der christliche Marienkult zeigt Wirkung.
Kunst und Kultur sind in die Madonna mit ihrem Jesuskind vernarrt, Maria wird zum Ideal der selbstlos liebenden und aufopferungsvollen Mutter.
Daran sollen sich weltliche Mütter orientieren, doch am kurzen, entbehrungsreichen Leben der mittelalterlichen Durchschnittsmutter ändert auch der Kult nichts.
Die meisten Mütter können froh sein, wenn sie im Schnitt etwa zehn Geburten überleben und wenigsten jedes zweite Kind das Kleinkindalter übersteht.
Jean-Jacques Rousseau und die Erfindung der Mutterliebe
Es war es wieder ein "männliches" Konzept, dass das Leben von Frauen und Kindern nachhaltig verändern sollte.
Man schreibt die Epoche der Aufklärung, ein Zeitalter der Emanzipation, in dem sich die Menschen immer weniger mit dem lieben Gott und immer mehr mit ihrem irdischen Dasein beschäftigen.
„Ich denke, also bin ich“, ist der neue Leitgedanke einer heranbrechenden Zeit, die an Vernunft, Toleranz und persönliche Handlungsfreiheit glaubt.
Im Jahr 1762 wird es noch mehr als drei Jahrzehnte bis zur französischen Revolution dauern, doch die Vordenker und Philosophen jener Zeit reiben sich schon heftig an der zementierten absolutistischen Ständegesellschaft, in der sich König und Adel mit turmartigen gepuderten Perücken auf den Köpfen, seidenen Pluderhosen, vergoldeten Kutschen und galanten Schäferspielchen in ihren pompösen Schlössern und Gärten vergnügen, während der sogenannte „dritte Stand“ – Bürger, Arbeiter und Bauern – den Rokoko-Spaß mit erdrückend hohen Steuern bezahlen müssen.
Es ist diese etablierte Gesellschaft, eitel, selbstsüchtig und unehrlich, die den französischen Philosophen und Pädagogen Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) zur Weißglut ärgert – und gegen die er ein Zeichen setzen will.
Das tut er mit zahlreichen Veröffentlichungen, sein wichtigstes Werk ist aber der Erziehungsromans „Emile oder über die Erziehung” aus dem Jahr 1762, in dem er den „naturhaft guten Zustand“ des Menschen postuliert, der erst durch Erziehung ins Schlechte verkehrt werde.
„Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht;
alles entartet unter den Händen des Menschen.“
Jean-Jacques Rousseau
Das ist ein gedanklicher Umsturz – werden doch Kinder zu jener Zeit als eine Art kleiner Tiere angesehen, die erst durch eine Erziehung „mit harter Hand“ zu Menschen geformt werden müssen.
Keine Mutterliebe in den besseren Kreisen
In den besseren Kreisen überlässt man diese unangenehme Aufgabe sowieso anderen.
Wer es sich leisten kann, wahrt Distanz zum eigenen Nachwuchs – die Kindersterblichkeit ist in allen Gesellschaftsschichten nach wie vor erdrückend hoch, was sicherlich auch zu dieser Haltung beiträgt.
Ein Kind zu stillen, ist nur etwas für arme Leute; Betuchte geben ihre Kinder oft jahrelang zu Ammen aufs Land, die über eigens eingerichtete Agenturen vermittelt werden. (Nur bei sehr reichen Städtern lebt die Amme im Haus, Dienstboten hüten die Kinder).
Nach der Zeit bei ihrer Amme wird der Nachwuchs gutsituierter Eltern im Alter von sieben bis 16 Jahren ins Kloster oder zu den Jesuiten geschickt, wo ihre Erziehung mit der Maxime, ihre „tierische Natur“ durch Strenge zu bezähmen, fortgesetzt wird.
Mutterliebe?
Wahrscheinlich konnte ein Kind froh sein, wenn „maman“ es nach seiner monate-, manchmal jahrelangen Abwesenheit überhaupt wiedererkannte. Im Übrigen ließen sich Eltern, die etwas auf sich hielten, von ihren Kindern siezen.
Emile oder über die Erziehung
Wie nicht anders zu erwarten war, fällt Rousseaus pädagogisches Konzept vom "naturhaft guten Zustand" von Kindern, die erst durch die gängigen Erziehungspraktiken in schlechte Erwachsene verwandelt werden, mit Pauken und Trompeten durch.
Sowohl Kirchenvertreter wettern gegen die „neuen Wilden“, aber auch die aufgeklärten Denker und Philosophen seiner Zeit haben nur Hohn und Spott für seinen merkwürdigen Denkansatz übrig:
Nach der Lektüre des Romans habe er Lust bekommen, auf allen vieren zu gehen, spöttelte Rousseaus Zeitgenosse Voltaire.
Doch alle Aufklärer glauben an die Vernunft und an eine bessere Welt mit besseren und vernünftigeren Menschen.
Die Idee, die Kindheit als eigenständigen und vollwertigen Lebensabschnitt anzusehen, in der Kinder wichtige positive Erfahrungen machen sollten und ohne Drill, sondern mit Vernunft auf ihr Erwachsenenleben vorbereitet werden, passt eigentlich sehr gut ins Konzept einer aufgeklärten Welt – dieser Aspekt in Rousseaus neuem Denkansatz gefiel.
„Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“
Jean-Jacques Rousseau
Mit Frauen oder Müttern hatte dieser Ansatz übrigens noch gar nichts zu tun; im Roman übernehmen Hauslehrer Emiles Erziehung.
Mädchen und jungen Frauen ordnet Rousseau ein klassisches Rollenmuster zu, er empfiehlt sogar, ihre natürliche Neugier „abzutöten“, um Männer vor zu vielen weiblichen Fragen und eigenen Gedanken zu bewahren.
In einem kleinen Teil seines Romans beschreibt Rousseau „Sophie“, die spätere Ehefrau seines fiktiven Zöglings Emile. Zwar gesteht er Sophie zu, ähnlich begabt zu sein wie Emile, doch im Gegensatz zu ihm erhält sie keine Ausbildung, sondern lernt Singen, Klavierspielen, Nähen und Kochen, eben alles, was sie braucht um ihrem zukünftigen Mann zu gefallen und ihm das Leben angenehm zu machen.
„Die Frau hat mehr Geist, der Mann mehr Genie.
Die Frau beobachtet, der Mann schließt.“
Jean-Jacques Rousseau
Mütter, macht bloß alles richtig!
Erst 30 Jahre später, mit dem Beginn der französischen Revolution 1789, beginnt auch der Siegeszug von Rousseaus neuem Konzept:
Nachdem der „dritte Stand“ auf die Barrikaden geklettert war, König und Königin geköpft, Klerus und Adel aus ihren goldenen Palästen verjagt waren, machte man sich auch daran, das öffentliche Bildungssystem zu erneuern, beziehungsweise überhaupt erst einmal Schulen für die breite Öffentlichkeit - erstmals auch für Mädchen - zu schaffen.
Als wegweisend galt dabei der von vielen Revolutionären der ersten Stunde geschätzte Rousseau, der posthum mit seiner Lehre vom freien, wilden und guten Urzustand des Menschen zu einer Art pädagogischer Superheld der Revolution aufgestiegen war.
Die Kindheit als eigenständiger und besonderer Lebensabschnitt und Erziehung als wichtige Grundlage für die positive Entwicklung eines Kindes wurde zum allgemeinen gesellschaftlichen Konsens.
Eine für Mensch und Staat so immens wichtige Aufgabe konnte man natürlich nicht irgendwelchen Ammen, Hauslehrern oder Dienstboten überlassen – die waren für den größten Teil der Bevölkerung sowieso unbezahlbar – und so entdeckte man die Mütter, in deren natürlichen Zuständigkeitsbereich die Erziehung ihrer Kinder zukünftig fallen sollte.
Damit war die neue Lebensaufgabe von Frauen definiert, und es dauerte nicht lang, bis sie zum einzigen Sinn eines Frauenlebens erklärt wurden.
Der Begriff „Mutterliebe“ entsteht – und damit verbunden die unausgesprochenen Forderung:
„Mütter, macht bloß alles richtig, sonst kriegt euer Kind einen Schaden fürs ganze Leben.“
Den vollständigen Artikel mit allen Darstellungen und weiterführenden Leseempfehlungen ist in meinem Blog Generationengespräch zum Nachlesen: Die Erfindung der Mutterliebe
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