Die Verfasserin dieses Textes ist Islam-Expertin. Sie will weder in die eine noch in die andere Richtung politisch Stimmung machen, sondern - ohne dabei zu pauschalisieren - ein verbreitetes Problem ansprechen. Da derzeit aber eine sachliche Debatte zu diesem extrem emotional aufgeladenen Thema schwer geworden ist, hat sie sich entschieden, den Beitrag anonym zu veröffentlichen.
Fast ein Jahr nach der Silvesternacht 2015 ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Das Ergebnis ist niederschmetternd: Kein einziger Täter sitzt im Gefängnis. Offenbar ist in Deutschland jede Parkverbotszone besser geschützt als die Menschenrechte von Frauen. Dabei könnte die Abschreckung der Täter sehr viel effektiver funktionieren, wenn die Frage nach einer rassistischen Motivation für sexuelle Gewalt gestellt und diese gegebenenfalls mit geahndet würde. Es ist an der Zeit, dass wir Islamwissenschaftler auch einmal offen über dieses Problem sprechen.
Schon vor dem Islamismus war die Geringschätzung „westlicher“ Frauen als „leichte Beute“ ein verbreitetes Problem in der islamischen Welt. Warnungen dazu stehen in jedem Reiseführer. Aber wie salonfähig ist diese Haltung? Bereits 1980 untersuchte R. Wielandt, wie Europäerinnen in moderner arabischer Literatur dargestellt werden. Die zitierte Literatur liest sich wie ein Kaleidoskop pauschalisierender, oft beleidigender Stereotypen „der westlichen“ Frau: Europa als gigantisches Bordell, in dem der arabische Mann als bevorzugter Kunde verkehrt.
Pädophile Fantasien
Die Frauen sind meist blond und um die 18. Bisweilen auch jünger, bis hin zur Projektionsfläche für pädophile Phantasien, wie in einer von Wielandt zitierten Kurzgeschichte von I. Abdalquddus: die sexuelle Erregung des Protagonisten beim Anblick einer Dreizehnjährigen geht hier hart an die Grenze zum Pornografischen. Ansonsten haben die Europäerinnen meist große Brüste, über denen sich das Kleid „bis zum Zerreißen“ spannt“ (S. 506) – und keinerlei persönliche Charaktereigenschaften. Allesamt werfen sie sich, meist in Eigeninitiative, dem orientalischen Mann an den Hals.
Europa, so erfährt man aus einem Zitat von Sabah Muhyiaddin, sei für orientalische Männer ein Ort, wo man die „seit unzähligen Generationen“ angestauten und verdrängten Triebe abbauen könne (S. 509). Auch der sudanesische Autor at-Tayyib Salih ließ bereits vor Jahrzehnten seinen Protagonisten Mustafa Said in geschmacklosen Fantasien von der sexuellen „Kolonialisierung“ europäischer Frauen schwelgen. Zeit der Nordwanderung ist ein bis heute gern gelesener Klassiker. Das Buch zeigt, worin Salih den Kern dieses hier arabisch-afrikanischen Rassismus gegen „die westliche“ Frau sah: Aus Sicht des Protagonisten stellte die Kolonisation eine Vergewaltigung Afrikas dar, die durch sexuelle Eroberung europäischer Frauen gerächt wird: „Ich werde Afrika mit meinem ... befreien.“ (S. 470)
Wielandt verwies zu Recht darauf, dass sich das Bild der Europäerin mit der Emanzipation der arabischen Frauen verbessert habe: dass die Darstellung der europäischen Frau oft mehr eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen in der arabischen Welt selbst und damit eine Frage des generellen Frauenbildes sei (S. 425 und 553). Das Fremde ist eben auch hier Projektion des Eigenen.
Wo sich die arabischen Frauen emanzipieren, erscheint auch die Europäerin weniger nuttig, und in den Texten wird ironischer mit den Stereotypen gespielt: Da muss dann schon mal ein Protagonist frustriert feststellen, dass sich die Wienerinnen beim Erscheinen eines Arabers eben nicht gleich hechelnd auf den Boden werfen und die Beine spreizen. Sondern dass sexuelle Freiheit vor allem auch die Freiheit ist, nein zu sagen.
Emanzipation macht Rückschritte
Wenn Wielandt Recht hat und das Bild der „westlichen“ Frau vor allem mit der Emanzipation arabischer Frauen korreliert – wovon auszugehen ist – ist es umso schlimmer, wenn diese arabische Emanzipation Rückschritte macht. Genau das aber ist seit einigen Jahrzehnten als Folge besonders des wahhabitischen Fundamentalismus zu beobachten, gegen den mutige Autorinnen wie Joumama Haddad oder Shereen al-Feki („Sex and the Citadel“) sich positionieren: In Rajaa Alsaneas „Girls von Riyad“ etwa (2007 auf Deutsch erschienen) – gefeiert als Befreiungsroman der arabischen Frau, aber trotz allem verankert im konservativen Wertsystem Saudi-Arabiens – ist die einzige „westliche“ Frau bis hin zum Namen ein Abziehbild aus „Sex and the City“.
Die in den USA lebende Japanerin Carrie, die unverfroren vor den Augen ihrer saudischen Rivalin deren Ehemann anruft und ihm ein Tête à tête vorschlägt – natürlich ohne je auf die Idee zu kommen, dass dieser sich irgendwann zwischen ihr und seiner aufgezwungenen Angetrauten entscheiden sollte. (Das Stereotyp wird etwas abgeschwächt dadurch, dass sie ihren Geliebten über Jahre hinweg finanziert hat, aber die Darstellung als „unmoralisch“ bleibt).
„Sex and the City“ wurde in der arabischen Welt begeistert rezipiert und – als light-Version – kopiert: Eine Projektionsfläche, die umso interessanter wird, je restriktiver die eigene Gesellschaft ist. Hier wird das Fremde zum gleichermaßen verdammten wie heimlich begehrten Paradies, vergleichbar mit den schwülstigen Odaliskengemälden des Orientalismus, auf denen halbnackte, stets willige Orientalinnen die Männerphantasien von viktorianischen oder Biedermeier-Herren beflügelten. Je restriktiver die Sexualmoral in der islamischen Welt wird, desto stärker grassiert dieser Okzidentalismus. Und mit ihm der Rassismus gegen „die westliche“ Frau.
Kairo oder Köln - nichts ist sicher
Sagte mir eine Professorin der Islamwissenschaft noch vor rund 20 Jahren, dass sie sich nachts in Kairo sicherer fühle als nachts in Köln, würde sie das heute so sicher nicht mehr wiederholen (oder inzwischen wieder?) Denn als zweiter Faktor kommt heute der Islamismus hinzu, der mehr oder weniger offen zum Rassismus gegen „westliche“ Frauen aufstachelt. (Wer einwendet, gegen „Nichtmusliminnen“ könne es keinen Rassismus geben, darf dann aber auch nicht von Rassismus gegen Muslime sprechen.)
Auch hier ist die Richtigkeit von Wielandts These zu erkennen, dass die Darstellung „westlicher“ Frauen mit der Stellung der muslimischen zusammenhängt: Der Islamismus reduziert das weibliche Geschlecht auf das diskriminierende Begriffspaar „keusch/ unkeusch“: Frauen wird damit de facto untersagt, sich über Menschenwürde statt über Geschlechterstereotypen zu definieren. Das betrifft auch muslimische Frauen.
„Westliche“ aber werden so als geborene Huren diffamiert. Insbesondere der wahhabitisch geprägte Islamismus (IS, Salafismus, al-Qaida etc.) wird samt diesem menschenverachtenden Frauenbild mit Hilfe enormer Geldmittel verbreitet. So wird der Minderwertigkeitskomplex angesichts erfolgreicher Frauen bei Männern, die dafür empfänglich sind, durch ein narzisstisch-rassistisches Überlegenheitsgefühl kompensiert. Mit fatalen Folgen für die Menschenrechtslage.
Rassistisches Motiv bei Gruppenvergewaltigung
Während Rassismus als Motiv für andere Straftaten logischerweise mit in den Prozess einbezogen wird, erhielten Gruppenvergewaltiger von Kindern in Deutschland Bewährungsstrafen. Dabei liegt gerade bei Gruppenvergewaltigungen ein rassistisches Motiv nahe – und zwar bei allen Tätern, ob sie nun aktiv oder passiv beteiligt waren.
Oft gibt sogar die Verteidigungsstrategie der Angeklagten Hinweise auf mögliche rassistische Europäerinnen-Klischees: etwa wenn Vergewaltiger behaupten, ihr Opfer hätte sich ihnen angeboten oder gar Geld für den Geschlechtsverkehr verlangt. Dennoch scheint die Frage nach einem rassistischen Motiv sexueller Gewalt bisher niemanden zu interessieren, selbst dann nicht, wenn es umso brutale Verbrechen wie eine Gruppenvergewaltigung geht. Bewährungsstrafen für diese Art Straftat sind nicht nur ein Schlag ins Gesicht der oft minderjährigen Opfer. Sie sind eine Verramschung der Menschenrechte.
Natürlich ist rassistisch motivierte sexuelle Gewalt keineswegs ein Merkmal „des“ muslimischen Mannes „an sich“. Ein gesellschaftliches Problem anzusprechen bedeutet nicht, dieses Problem pauschal allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu unterstellen. Gerade Islamwissenschaftler, die ständig mit arabischen und muslimischen Männern arbeiten wissen, dass das auch falsch wäre.
Doch Probleme werden nicht gelöst, indem man sie totschweigt. Nur mit Aufklärung kann man sie bekämpfen, und dazu gehört auch, Rassismus jeder Art klar zu benennen – auch dann, wenn er sich gegen „westliche“ Frauen richtet. Denn die Menschenrechte von Frauen und Kindern sind keine Ramschware.
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