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Annabelle

Annabelle

15.04.2016, 22:20 Uhr
Beitrag von wize.life-Nutzer

Ich suche immer Annabelle
Es war damals. Die Mauer in Berlin stand erst wenige Jahre und in Frankreich bezahlte man noch mit Franc. Mit dem Fahrrad machte ich mich auf den Weg nach Paris mit einem kleinen Zelt und einem Benzinkocher und ein paar Wörter Französisch im Gepäck. Am ersten Tag kam ich bis Strasbourg und am nächsten Tag über die Vogesen erreichte ich erst in der Nacht den Place Stanislav in Nancy. Hell erleuchtet war der Platz mit einem Denkmal in der Mitte. Auf seinem Sockel las ich: Stanislav Leszinsky – le bienfaisant de la lorraine. Ein Pole als Wohltäter von Lothringen? Darüber dachte ich nach bis ich auf einer Parkbank einschlief.

Nach fünf Tagen war ich in Paris und schlug mein Zelt auf dem Campingplatz im Bois de Boulogne am Ufer der Seine auf. Ich hatte eine genaue Vorstellung, was ich in Paris sehen wollte: Eiffelturm, Champs Ellysèes, Louvre, Quartier Latin und die Hallen, den Bauch von Paris, den nächtlichen Großmarkt mitten in der Stadt. Heute erinnert nur noch die Metro-station Les Halles an diesen Markt. Lieferwagen, trucks fuhren in der Nacht ins Herz von Paris. Kartoffeln, Gemüse, Obst, Wein und Berge von Schweinehälften wurden entladen, verarbeitet und ein paar Stunden später in den Bistros und Restaurants von Paris verzehrt. Meist aß ich dort in der rue St. Denis eine Zwiebelsuppe und trank eine petit rouge dazu. Die Schönen der Nacht boten den Fahrern, Gemüsehändlern und Metzgern ihre Dienste an. Und wenn ich durch die rue St. Denis ging, hörte ich: viens, viens, Blondisse, pour toit c’est gratuit. Doch ich war zu scheu, ich ging in mein Zelt schlafen.
Draußen an der Porte Clignancourt im Hotel L’Angleterre übernachtete ich bei meinem nächsten Besuch in Paris. Mit der Metro erreichte ich in einer halben Stunde die Station St. Michel. Die Fontaene St. Michel am Boul‘ mich sollte für mich das erste Ziel meiner Paris-Reisen werden. Über dem Brunnen sehe ich den heiligen Michael wie er dem Drachen den Kopf abschlägt und unten auf dem Rand des Brunnens lese ich:

Auf den Spuren von Hemingway erkundete ich Paris. In der Rhumerie trank ich Daiquiris und aß die Plat crèole mit Sardinen, Stockfisch und einer Boudin in der Mitte. In der Cloiserie des lilas trank ich einen Pastis und eine Dutzend Austern verzehrte ich in der Coupole oben in Montparnasse. Auf dem Rückweg zu meinem Hotel saß vor mir in der Metro ein junger Mann in einer schwarzen Lederjacke mit Walkman und den Stöpseln in seinen Ohren. Er bewegte sich im Takt der Musik, er rutschte auf seinem Sitz hin und her. Hinter ihm entdeckte ich eine rotblonde Frau mit einer Bernsteinkette um den Hals und silbernen Ohrringen. Unsere Blicke trafen sich. Ich imitierte die Bewegungen des Jungen zwischen uns. Sie lächelte, ich lächelte zurück. An der nächsten Station stieg ich aus, sie stieg auch aus und sagte zu mir auf dem Perron: Je suis Annabelle. Je suis jürgen, antwortete ich. Sie drehte sich um und ging in die entgegen gesetzte Richtung. Ich schaute ihr nach und ging ins Hotel. Hatte sie mich mißverstanden? War es mein schlechtes Französisch? Ging sie, weil ich Deutscher bin? Am nächsten Tag im Bistro La Lutece in St. Germain des Près unterhielt ich mich in Englisch mit einem Algerier. Im Lauf der Unterhaltung fragte er mich, wo ich in England wohne. Je suis Allemand, entgegenete ich. Da nahm er sein Glas und ging.

Paris habe ich öfters besucht. An Silvester auch mit meiner Geliebten Angelika. Mit meinem alten Citroen GS fuhren wir los ohne ein Hotel zu buchen, ich wußte nur, es sollte im Quartier Latin zu finden sein. Nachdem in der Rue Andrè des Arts kein Zimmer mehr zu finden war und auch in den umliegenden Straßen der Hinweis Complet an den Hoteleingängen unsere Begeisterung für Paris auf die Probe stellte, wir erschöpft einen petit rouge getrunken, sie einen croque madame und ich einen croque monsieur gegessen hatten, fanden wir noch ein freies Zimmer im Hotel Saint Jacques.
An der Place de la Contrescarpe, dort wo Hemingway in den Zwanziger Jahren schrieb und seine ersten Erfolge hatte, reservierten wir im Restaurant Mouffetard für Silvester: Vier-Gänge-Menue, Wein, Schnaps, Kaffee und sogar die Zigarren, alles inclusiv. Um 22 Uhr sollte die Feier beginnen mit einer Bowle, langsam kamen die Gäste, an unseren Tisch setzten sich zwei hübsche Französinnen. Erkannten sie unsere junge Liebe an unseren Blicken, an unseren Händen, die sich immer wieder berührten? Vous êtes en voyages de noces? fragte nach einiger Zeit die Rothaarige. Non, antwortete ich, je suis mariè - mais pas avec elle. Jetzt lachten die beiden und die Blonde sagte etwas wie oh, la la, les Allemands. Um Mitternacht zum Jahreswechsel ging kurz das Licht aus, Konfetti regte auf mich nieder, jetzt wurde getanzt. Als wir so gegen vier Uhr aufbrachen, meinte der Patron, ob es uns nicht gefallen habe, am Zinc warten noch Espresso und Zigarrillos auf uns. Angelika war müde, ich begleitete sie ins Zimmer, augenblicklich schlief sie ein. Ich ging zurück ins Mouffetard, in der Bar lud mich der Patron zu Huitres mit Chablis ein, da konnte ich nicht nein sagen. Und die hübsche Rothaarige - war das nicht Annabelle? - meinte, sie kenne eine boîte de nuit extraordinaire. Das habe ich dann ausgelassen und vermisse es bis heute.

Zurück im Hotel legte ich mich erschöpft und trunken mit Hemd und Hose ins Bett. Morgens um 10 Uhr klingelte das Zimmertelefon und die nette Dame von der Rezeption fragte mich zuerst auf Französisch und als ich das nicht verstand in fast akzentfreiem Deutsch, ob ich noch länger bliebe. Aber natürlich, antwortete ich, wir haben noch drei Tage länger gebucht. Schauen sie sich mal um , meinte sie, ihre Partnerin ist abgereist. Tatsächlich, das Bett war leer. (Aber Mademoiselle, so beginnt man nicht ein neues Jahr, meinte sie zu Angelika, als diese allein das Hotel verließ.) Ich bleibe noch, bestätigte ich. Im Bistro La Victoire trank ich einen Cafè au lait nach dem anderen und aß Choucroute royale und als ich zurück zum Hotel ging, war Angelika wieder da. Am Gare du Nord, als sie das Ticket für die Heimreise kaufen wollte, hatte sie keinen Personalausweis, der zur Einreise damals notwendig war, er lag im Handschuhfach des Citroens.

Warum suchte ich Annabelle nicht an der Porte Clignancourt in dessen Richtung sie fuhr? Warum suchte ich sie nicht in den Stationen zwischen Chatelet und Clignancourt? Sie paßt nicht in die Viertel im rive droite. Sie gehört eher auf die rive gauche. Und in der rue St. Andrè des Art habe ich sie gesehen wie sie gerade in der Passage Odeon verschwand. Ich bin ihr nachgesprungen und als sie sich umdrehte, konnte ich nur sagen: Pardon, Madame, c'est un malentendu, ein Mißverständnis.

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1 Kommentar

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Ja, genau so sah sie aus, meine Annabelle. Ihr habt sie gefunden - danke. Habt ihr auch ihre Adresse oder Tel.Nr.?
  • 18.04.2016, 10:56 Uhr
  • 0
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