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Mein Athen im Januar 2017

Mein Athen im Januar 2017

Hans-Herbert Holzamer
gerade eben
Beitrag von Hans-Herbert Holzamer

So wie es sich für einen Katholiken anfühlen mag, wenn er abgerufen von dieser Welt das Heilige Jerusalem betritt, so fühlte es sich für mich als überzeugten Altsprachler an, als ich das erste Mal die Tempel der Akropolis im Dunst des jungen Tages vor mir aufsteigen sah: Himmlisch. Und jedes Mal, wenn ich mit dem Auto oder der Bahn erneut nach Athen fuhr, durchströmte mich dieses Gefühl. Nun wusste ich, warum ich mich mit Altgriechisch in der Schule abgeplagt hatte. Später dann, wenn Flugzeuge den Transport in die griechische Hauptstadt übernahmen, ebbte dieses Gefühl ab, blieb aber bestehen.

Fragen drängen sich auf


Doch auch jetzt, Anfang des Jahres 2017, ist ein Besuch bei Pallas Athene Pflicht, wenn die Reise auch vordringlich anderen Zielen dient. Fragen drängten sich auf, nachdem in den letzten Jahren nur Nachrichten aus den Medien die Informationsgewinnung bestimmt hatten, nicht aber der persönliche Augenschein. Ist Athen noch eine Reise wert, wie geht es den Freunden in diesen Tagen, wenn ein neues Jahr der Armut anbricht? Leben sie überhaupt noch? Wenn ja, noch in Athen? Was ist aus der Stadt geworden, ist der Charme der Plaka, der Altstadt am Fuße der Akropolis, noch da, oder hat der Grind des Elends Straßen und Häuser überzogen? Wird der Rembetika, seine traurig-schönen Balladen, die von den Griechen Kleinasiens bei ihrer Vertreibung aus der Heimat mitgebracht wurden, noch gesungen, lebt die Gastfreundschaft noch, oder wird im Fremden, dem deutschen zumal, der Xenos gesehen, der für alles Elend dieser hellenischen Welt verantwortlich zu machen ist?
Noch ist das Flugzeug nicht gelandet, und schon steigert sich die Neugierde ins Unermessliche. Was wird überwiegen? Das erhebende Gefühl der höchsten Stadt oder das deprimierende ihrer erniedrigten Bewohner?
Es ist kalt in Athen, es hat geschneit. Und da die Stadtverwaltung offensichtlich anderes zu tun hat, als sich einem Winterdienst hinzugeben, haben Unfallchirurgen, diejenigen, die noch nicht ausgewandert sind, Konjunktur. Mir gelingt es, hangelnd an Zäunen und Felsen unterhalb der Akropolis meine Lieblingsmotive zu besuchen, den Lycabettus zu fotografieren, den Bergkegel auf der anderen Seite der Stadt, meine erste Schlafstadt, als ich als Schüler hierherkam. Die frostig weißen Bergrücken im Hintergrund werden abgelichtet, nach verschollenen Freunden, Kollegen und Informanten soll gesucht werden.
Irini, der ich mal nach Skiathos nachgereist bin, hat Griechenland verlassen. In ihrer Adresse in der Odos Pindaro wohnen andere. Sie sei in London, erfahre ich. Hoffentlich vertreibt sie der Brexit nicht von dort. Dafür gelingt es mir, mich mit Yannis und Georgios zu verabreden. Yannis war ein Freund, der mir bei Recherche-Arbeiten für den Roman „Richter ohne Sühne“ unschätzbare Hilfe geleistet hat. Stolz präsentiert er sich nach dem Begrüßungshallo als Flüchtlings-Kriegs-Gewinnler in einem Lokal in der Plaka. Er hat sich eine schwarze Schönheit als Kebse zugelegt, die bestimmt 30 Jahre jünger ist als er. Er selbst trägt, als wir uns um „the greco´s“ am Monastiraki Platz treffen, einen bunten patch work – Pullover, der nur hier als made by Missoni durchgeht. Wobei seine Schöne nichts versteht, und die übrigen meinen, von Mussolini wäre die Rede. Yannis zieht während der Diskussion über sein neues Kleidungsstück genüsslich Luft und Zubehör durch einen Zahn, was mich, wie mir erschwerend auffällt, schon immer gestört hat. Seine Eroberung trägt einen Kapuzenpulli mit der Aufschrift „Boston“ auf der wohlgestalteten Brust, was das Gesamtbild auch nicht nach oben korrigieren kann. Immerhin spricht sie leidlich Griechisch. Georgios, der in dem Roman „Richter ohne Sühne“ das Vorbild für den Staatsbeamten Leptos gewesen war, muss sich inzwischen eindeutig weiter rechts eingeordnet haben, irgendwo hinter der Morgenröte. Seinen langen, schwarzen Ledermantel zieht er nicht aus, während er sich Lamm mit Bohnen und Tomaten in das gierig schnappende, bartumrahmte Maul stopft. Und was sein Haupthaar an Volumen verloren hat, macht ein über Gürtel und Hose hängender und nur von dem Mantel eingefangener Bauch locker wett.

"Europa hat keine Chance"


Durch Zufall treffe ich am Flughafen Nikolas und Pantelis, zwei Professoren, die sich jetzt in Zypern ihren Lebensunterhalt verdienen. Mit beiden hatte ich vor gefühlt hundert Jahren mal beruflich zu tun, als ich einen kleinen Beitrag zur Vorbereitung der ersten europäischen Direktwahlen leistete. Noch war Griechenland damals nicht dabei. „Europa hat keine Chance, wenn nicht die gemeinschaftlichen Elemente verstärkt werden“, sagt Pantelis, „die EZB muss alleine die Darlehen ausgeben, nicht mehr die einzelnen Regierungen.“ Und eine gemeinsame Budgethoheit müsse her. „In Griechenland“, so Nikolas, „geht alles den Bach runter. Die Intelligenz verlässt das Land, nur wer das nicht kann bleibt. Mit ihnen kann man aber keine Zukunft gestalten.“ Die Tsipras-Regierung mache viele Fehler, so habe sie die Bankverbindungen von 2 Millionen Menschen beschlagnahmt, weil diese Schulden beim Staat hatten. „Stelle Dir vor: Einer von Fünf hat kein Konto mehr. Wenn Du als freier Journalist ein Honorar auf dein beschlagnahmtes Konto überwiesen bekommst, siehst Du es nicht, es verschwindet beim Staat. Wenn die zwei Mitarbeiter hast, wie willst Du sie bezahlen, wenn Du über kein Geld verfügen kannst? Jedenfalls solange nicht, bis eine gewisse Summe wieder erreicht ist.“ „Wir brauchen soziale Erleichterung für alle und nicht solche populistischen Maßnahmen wie das Weihnachtsgeld für Rentner, das zudem dazu führte, dass einige ihre Unterstützungsberechtigung verlieren werden, weil sie plötzlich zu viel Geld haben.“ Pantelis ist froh, in wenigen Minuten die Maschine nach Pafos nehmen und Athen verlassen zu können. Beide wohnen längst nicht mehr in der Stadt, weit hinter dem neuen Flughafen, in der gepflegten Suburbia Richtung Ägäis sind sie zuhause.
Wer also in Athen geblieben ist, der hat sich arrangiert. Das Leben geht seinen Gang, wenn es nicht auf den vereisten Platten ins Schleudern gerät. Zu den fliegenden Händlern an der römischen Agora haben sich viele Flüchtlinge gesellt, die betteln oder Musik machen. Den arbeitslosen Professor, der sich mit der Geige durchschlägt, sehe ich nicht.
Ob der schlechte Eindruck nur dem Wetter geschuldet ist? Ebensowenig wie der Streudienst funktioniert die Müllabfuhr. Und am Schnee kann es nicht liegen, dass in bester Plaka-Lage viele Häuser den Weg zur Ruine eingeschlagen haben. „Was regst Du Dich in Athen über Dinge auf, die Du in Palermo für szenisch und typisch hältst?“ Alexandra, die beim Tourismusbüro der Stadt arbeitete, meint, mich auf meinem schwachen, italophilen Fuß zu erwischen. „Als ich das letzte Mal hier war, sah es noch anders aus“, erwiderte ich, „mich interessiert die Entwicklung. Die geht nach unten, auch für das klassische Erbe. Wie die kleinasiatischen Städte aus der Zeit der Hellenen in der heutigen Türkei aussehen, weiß ich. Wie die römischen Städte in Nordafrika, das mag ich mir nicht einmal auszumalen. Dort ist das Erbe verloren. Aber Athen ist Europa und für einen Altsprachler wie mich etwas einzigartiges. Das darf nicht in Müll und Armut untergehen.“
„Es ist noch alles da.“ Und so verabreden wir für morgen einen Rundgang. Alexandra versprach mir, dass es einer der besonderen Art sein würde. Für mich hatte ich beschlossen, einen weiteren Tag in der Stadt zu verbringen, um alleine Eindrücke zu sammeln.
Ich wusste, die ehemalige Mitarbeiterin des Athener Tourismusamtes würde mich zur Akropolis, dem Partenon und dem Odeon des Herodes Atticus schleppen, in dem jedes Jahr das Athen-Festival stattfindet, das aber , was ich bereits selbst gesehen hatte, aktuell bestenfalls als Baustelle bezeichnet werden kann. Die römische und die alte Agora, das Olympeion, das Hadrianstor, den Philopappus Hügel, den Kerameikos. Ich hoffte, sie würde es damit bewenden lassen, um mir einen Ausflug nach Kap Sounion an die Südspitze der attischen Halbinsel zu gönnen. Aber es kam anders, und Alexandra mit einem William-Faukner-Zitat: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen“. Alle Welt würde den Begriff „Demokratie“ im Munde führen, begann sie ihren Rundgang der besonderen Art. Aber was meinten die Griechen ursprünglich damit? „Ein System, Sicherheit und Wohlergehen einer Gemeinschaft von Bürgern voranzubringen.“ Nach dem Einsturz der Bronzezeit-Zivilisationen etwa 1100 vor Christus hätten sich die Bürger von der Herrschaft der Könige und der Macht der mykenischen Paläste befreit. Homers Zeit war Geschichte. „Und die modernste Form der Bürgerregierung war die Demokratie.“
Nun waren Bürger nicht alle, die Frauen nicht, die Sklaven und Heloten, die Hilfsvölker, auch nicht. Aber die Idee war geboren.
Überzeugt, dass ich nun das alte Athen mit anderen Augen sehe, gehen wir in der Plaka in ein Restaurant, Alexandra bestellt Meze, die Vielfalt unterschiedlicher Speisen auf Schalen und in Häppchenform zu nehmen. „Die Griechen in Sizilien schrieben die ersten Kochbücher, und in Athen nahm man ihre Gerichte so begeistert auf, dass man feste Regeln entwarf, wer was kochen und servieren durfte. Demokratische Regeln, jeder bekam dasselbe – eben die Meze in Häppchenform. Man nannte das Isonomia. Wer gierig mehr aß, als ihm zustand, galt als Bedrohung des Staates. Dann wurde diskutiert, das ist der Ursprung des Symposiums, angetrieben durch Wein, Ouzo oder Tsipouro. Noch heute diskutieren Griechen gerne und impulsiv, wie Du weißt.“ Ich wusste und bemüßigte mich die Regeln der Isonomia zu beachten.

Immer noch mein geliebtes Hellas


Ich wusste, welche Botschaft mir Alexandra vermitteln wollte, dass Griechenland immer noch mein geliebtes Hellas sei, ein unverzichtbarer Teil Europas, trotz aller Probleme. Doch das war nicht mein Thema. Was mich umtrieb, dass die Griechen selbst ihr Land und seine Hauptstadt aufgeben, auswandern oder ans Meer ziehen. Die Kulturstätten werden für die Touristen in den Spitzenzeiten als Museen in Schuss gehalten, dass keiner zu Schaden kommt, so wie es in der absoluten Nebensaison, dem Januar, passieren kann.
Ein gutes Indiz, wie das Lebensgefühl einer Stadt schlägt, gewinnt man des Nachts. Also machte ich mich gegen 1 Uhr morgens auf und lief vom Syntagma-Platz zum Monastiraki Platz, wo, wie man mir sagte, noch viele Lokale offen hätten. Ich hatte kein ängstliches Gefühl, anders als in Neapel um diese Uhrzeit, obwohl außer Taxen kaum Autos unterwegs waren und viele Männer mir tolle Sachen zeigen wollten. Aber die Häuser präsentierten ihr Alltagsgesicht, und das war nicht schön. Verfall, Beschmierungen, Grafitti überall. Müllhaufen türmten sich selbst vor Glasflächen, hinter denen edle Clubs Leben zelebrierten. Wenn man hier schon mit Gleichmut auf die Aufgabe öffentlicher Ordnung reagiert, wie soll es dann in den abgelegenen Straßen aussehen? Schlimm. Gerüste und Planen, nicht um eine Sanierung vorzubereiten, sondern nur noch, um zu kaschieren und zu verhindern, dass den Passanten die oberen Geschosse auf den Kopf fallen.
Ich fand kurz vor dem Monastiraki Platz die Bairaktari Taverne, die offen hatte und geschmückt mit vielen Fotos die Erinnerung an bessere Zeiten aufrecht erhielt. Die Tischdecken waren zwar aus Plastik, aber die Zucchini-Kroketten, der Zaziki und der Rotwein sehr gut. Der Preis minimal. Ich hatte keine Lust mit den Leuten zu reden, einige Gäste waren noch da. Kein Kellner fragte mich, ob ich ein „Jermann“ wäre, früher wollten sie (fast überall im Land) das noch vor der Sorte des gewünschten Weines wissen, um mir dann zu bestätigen, wie toll wir wären und wie böse die Engländer. Freundlich, aber nicht herzlich waren sie. Aber ich hatte die Worte meiner beiden Professorenfreunde Pantelis und Nikolas noch im Ohr. Ich grübelte, ob es richtig ist, diese Verarmung eines Landes zuzulassen, und kam zu dem Ergebnis: Nein. Man müsste einen Weg finden, an den Eliten vorbei den Menschen zu helfen. Bei Bildung und Jobs und mit einer „sozialen Erleichterung“, wie sie es genannt hatten. Mir fiel aber nichts ein, weil die jeweils Regierenden immer auf den Nationalstolz pochen und sich nicht helfen lassen wollen. Stolz worauf? Auf das was mir Alexandra erzählt hatte? Natürlich. Das darf aber nicht dazu führen, ein Land vor die Hunde gehen zu lassen. Der Ausweg? Ich kenne ihn nicht.
Am nächsten Morgen lief ich das Dreieck Syntagma-Platz, Monastiraki Platz, Omonia-Platz und wieder zum Syntagma-Platz. Es ist das Herz Athens. Aber es schlägt nicht mehr. Es ist eine Stätte zum Weinen, wo überall, nicht nur in den Ecken, der Schund verkauft wird, den die Ärmsten der Armen kaufen. Alles, was die chinesischen Triaden an billigem Zeug in Süditalien produzieren lassen, von Uhren, über Hosen bis Messer, Haushaltsgeräte und Spielzeug wird auf den Straßen, etwa der Athinas, ausgebreitet. Die freudlose Welt des Prekariats hält das Herz der Stadt im Würgegriff. Freudig betritt man die verbliebenen Märkte, wo Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst und Gewürze angeboten werden. Das sind bunte Flecken in einem tristen Grau. Den Omonia-Platz habe ich nicht wieder erkannt. Jeder Glanz und jede Eleganz erloschen. Und das lag nicht nur an der Jahreszeit.
Dann wollte ich mir einen Gefallen tun und das neue Akropolis-Museum in der Dionysiou Areopagitou besuchen, es soll ein Glanzlicht in der Stadt sein. Es war leider nicht geöffnet. Auch die gesamte Akropolis war zu, die wenigen Touristen standen vor geschlossenen Toren, ausgesperrt.
Man kommt auch nicht im Januar, würde Alexandra sagen. Nun gut. Andererseits: Wie ist das mit dem Heiligen Jerusalem? Ob die liebe Seele dort den Zugang und ihre Ruhe findet, ist auch noch nicht bestätigt worden. Im Januar nicht und sonst auch nicht.

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1 Kommentar

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Thomas Bily
Sehr schön beschrieben. Wir waren im September in Athen und da war das auch schon etwas zu spüren und zu hören. Ein trostloser Januar tut den Rest.
  • gerade eben
  • 0
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