T R Ä U M E
Als ich noch ein kleines Mädchen war, las ich bereits leidenschaftlich jedes Buch, das mir in die Hände viel.
Am liebsten Abenteuergeschichten oder Geschichten von Weltenbummlern und Entdeckern.
Die Reiseberichte von Alexander von Humboldt faszinierten mich am meisten.
Ich träumte davon, auch einmal ferne Länder zu bereisen, weiße Flecken auf dem Globus zu erkunden, fremdartige Fauna und Flora zu erforschen, unbekannte Kulturen zu besuchen und andere Völker kennen zu lernen.
Eines Tages schenkte mir mein Vater ein altes Buch mit dem Titel „Schiggi Schiggi“. Das hatte ich in unserer riesigen Bücherwand noch nie gesehen.
Dem Einband sah man an, dass es schon sehr oft gelesen worden war. Trotzdem war das Buch intakt, es war wohl sorgsam behandelt worden. Seine Seiten sind aus Hanfpapier und es enthält viele schwarz-weiß-Fotos.
Mein Vater erzählte mir, dass er das Buch von seinem Pfarrer geschenkt bekommen hatte, als er als neunjähriger Junge auf Leben und Tod im Krankenhaus lag. Das hatte sich so zugetragen:
Beim Spielen waren die Kinder im Wald zufällig auf eine Stelle gestoßen, an der offenbar kürzlich gegraben worden war. Es war Winter und die Spuren im Schnee nicht zu übersehen. Da die Jungs hofften, einen Schatz zu finden, gruben sie die Stelle mit bloßen Händen und blau gefrorenen Fingern auf.
Es lag aber kein Schatz, sondern eine Pistole samt Munition darin, alles sorgsam in ölgetränkten Lappen verschnürt.
Mein Vater wollte sie anschauen. Dabei löste sich ein Schuß, durchschlug seine Leber und blieb in einem Wirbel stecken.
Seine Freunde liefen, so schnell sie konnten, zu seiner Mutter, um ihr von dem Unglück zu berichten.
Meine Oma rannte die 5 Kilometer zu fuß in den Wald und trug ihren inzwischen vom Blutverlust ohnmächtigen Sohn in ihren Armen in den nächsten Ort in das Krankenkaus. Fünf Kilometer weit! Im Jahr 1929 gab es kein Handy und ein Telefon hatten nur wenige Menschen. Notarzt und Rettungshubschrauber gab es auch noch nicht. Niemand glaubte daran, dass mein Vater überleben würde. Der Pfarrer des Ortes besuchte ihn im Krankenhaus und schenkte ihm besagtes Buch. Dieses Buch trug wohl sehr viel dazu bei, dass mein Vater wieder gesund wurde. Er las immer wieder darin, bis er vor Ermattung einschlief. Dieses Buch enthält die wahre Geschichte eines Forschers, der im südamerikanischen Dschungel einen bis dahin unbekannten Indianerstamm entdeckt und monatelang mit ihm gelebt hatte. Ein unglaublich detaillierter, spannend geschriebener Reisebericht. Er weckte in meinem Vater die Lebensgeister, den innigen Wunsch zu überleben. Und den Traum, Entdecker und Forscher zu werden.
Und nun schenkte mein Vater dieses „heilige“ Buch mir! Ich war überglücklich und stolz. Dass es in Sütterlin geschrieben ist, störte mich nicht, ich konnte das als Kind gut lesen.
Dieses Buch verstärkte in mir den Traum von Reisen in ferne Welten, von unbekannten Völkern und Kulturen, rätselhaften Tieren und eigenartigen Pflanzen. Ich besitze es immer noch.
Abenteurerin in diesem Sinn bin ich zwar nicht geworden, aber den Traum von Reisen in fremde Länder konnte ich mir erfüllen.
Wie einfach das heutzutage ist, diese Träume wahr werden zu lassen! Man steigt in ein klimatisiertes Flugzeug und ein paar Stunden später ist man im Land seiner Träume angelangt, an fast jedem Punkt dieser Erde.
Früher waren monatelange, gefährliche, unbequeme Schiffspassagen notwendig, um überhaupt erst einmal fremden Boden betreten zu können. Das war erst der Anfang! Ohne Navigationsgeräte, Kartenmaterial, Funk oder Handy mussten sich die Menschen ihren Weg zu Fuß oder mit Maultieren mühsam erkämpfen, waren Monate, wenn nicht Jahre fernab jeder Zivilisation. Ihre Familien zu hause wußten nicht, ob ihr Angehöriger noch lebt oder schon längst seinem Traum zum Opfer gefallen war.
Heutzutage genügt eine SMS „bin gut gelandet“ und alles ist o.k.
Wer auch immer den Spruch: „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“ als Erster gesagt hat, er (oder sie) hatte Recht!
Copyright: Inga Scheer- Ruhland, 31.05.2015
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