In einem vierhundert Seelendorf hoch im Norden, erzählen sich die Menschen auch heute noch die Geschichte vom reichen Milchbauern Jan Ladiges.
Ladiges besaß mehr als dreihundert Milchkühe und bewirtschaftete fünfzehntausend Hektar Land.
Im Jahre 1938 erbaute er zusammen mit seinen beiden Söhnen Arthur und Paul eine reetgedeckte Villa, hoch über dem Dorf, direkt am Geesthang.
Seine fünfzehnjährige Tochter Luise, versorgte mit ihrer Mutter die Kühe in den Ställen. Eine Kuh hatte Luises Herz auf eine wundersame Art berührt, wegen ihrer weißen Flecken auf der Brust, gab sie ihr den Namen Schneeglöckchen.
Arthur und auch Paul starben 1941, nur wenige Wochen nach ihrer Einberufung in den Krieg. Schneeglöckchen gebar drei Kälbchen, alle waren Totgeburten. Wenige Wochen später, gab Schneeglöckchen keine Milch mehr. Schneeglöckchen war zu nichts mehr zu gebrauchen, und so endete ihr Leben grausam in einem Schlachthof.
1949 verließ Luise, zusammen mit ihrer Mutter die Villa, beide wurden im Dorf nie wiedergesehen.
Ladiges verkaufte alle Ländereien und das restliche Vieh, fortan lebte er als komischer und geiziger Kautz allein in seiner reetgedeckten Villa. Im Dorf kannte ihn jeder, doch alle mieden den Umgang mit ihm. Manchmal, stand er nur so da und starrte in die Landschaft. Manchmal, kramte er ein Tabaksäckchen aus seinen Hosentaschen und stopfte seine selbstgeschnitzte Pfeife. An lauwarmen Sommerabenden, sah man Ladiges oft auf einem Feldweg, unterhalb seiner Villa. Dort lauschte er dem Gesang der Rotkehlchen im Unterholz, und während er an seinem Hörgerät stellte, soll er gelächelt haben.
Ladiges liebte Spaziergänge in den frühen Morgenstunden, lange, bevor der Tag anfing zu atmen. An einem nebligen Herbsttag 1953 verlief er sich auf den Wiesen im Marschland. Zum ersten Mal in seinem Leben, verspürte Ladiges ein Gefühl der Einsamkeit und der Angst. Ladiges stieg über ein wackeliges Holzgatter, stapfte einige Schritte, durch das vom Morgentau durchnässte Gras. Er spürte eine ungewöhnliche Kälte, die von seinem Körper Besitz ergriff, und so blieb er stehen und lauschte in die neblige Landschaft. Hinter ihm ein leises Schnaufen, als er sich umdrehte, schaute er in ihre Augen
„Schneeglöckchen?“ An ihren weißen Flecken auf der Brust und an ihren Augen, erkannte er sie wieder. „Mein Gott Schneeglöckchen, verzeih mir, sagte er mit leiser Stimme.“ Sein Herz pochte laut und Schneeglöckchen streichelte mit ihrer rauen Zunge seinen Handrücken. Silbrig glänzende Wassertropfen, spiegelten sich auf ihrem Fell, wie kleine Edelsteine.
Als die ersten Sonnenstrahlen die Nebelschwaden durchbrachen, verschwand Schneeglöckchen in einem hellen Licht.
Seit jener Begegnung änderte Ladiges seine Einstellung zu den Menschen im Dorf, fröhlich grüßte er jeden, der ihm begegnete, kaufte den Kindern Süßigkeiten beim Krämer und lud Menschen zu sich nach Hause ein.
1956 eröffnete Ladiges die erste Suppenküche im Bürgerpark, wenige Monate später, ließ er seine Reetdach Villa umbauen und gab bis zu seinem Tod im Jahre 1971 vielen Obdachlosen ein neues zu Hause.
Die Ladiges Villa steht auch heute noch, umringt von roten Heckenrosen am selben Ort, und wurde 1964 zu einem Kinderhospiz umgebaut, es war Ladiges letzter Wunsch in seinem Testament.
Vor der Toreinfahrt, steht eine aus Holz geschnitzte Kuh, mit weißen Flecken auf der Brust.
©Peter Böttcher
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