wize.life
Neu hier? Jetzt kostenlos registrieren und mitmachen! Warum eigentlich?
Das Klassentreffen

Das Klassentreffen

31.01.2016, 12:54 Uhr
Beitrag von wize.life-Nutzer

Das Klassentreffen
Alle sind sie gekommen, meine Klassenkameraden von damals aus der Wirtschaftsoberschule. Die Ehefrauen sind auch dabei. Wir sitzen im holzgetäfelten Nebenzimmer des Hotels Au Cygne in Wissembourg. Zwischen den Pastis‘ und Martinis und den Cruditès steht Martin auf und in wohlgesetzten Worten erinnert er an die Verstorbenen des letzten Jahres, an die Lehrer und es sind auch Mitschüler dabei. Die Schwingtür wird aufgestoßen und herein kommt Gerd, unser Klassenkamerad aus der letzten Bank, der nach Brasilien ausgewandert ist. Und den Grund seiner Auswanderung führt er an der Hand herein: eine milchkaffeebraune mandeläugige Brasilianerin. Martin sagt nur noch: „Ja, Gerd, wo kommst Du denn her?“ Einige heben ihr Glas, um so über den Rand ihres Aperitifs einen Blick auf Gerds Brasilianerin werfen zu können. „Buenas tardes, isch bin Carmen“, sagt sie lächelnd. Im Hintergrund glaube ich die ersten Takte von dem Einmarsch der Matadore aus der Oper Carmen zu hören. Doch es sind die unruhigen Füße der Ehefrauen, die Carmen taxieren, während ihre Ehemänner ihre Blicke kaum abwenden können. Sie nimmt neben mir Platz und ein Hauch von J’adore hüllt mich ein.
Während wir uns den Cruditès widmen, erzählt Gerd von Rio de Janeiro, von der Coppa Cabana und zeigt ein Foto von seinem Sohn Ronaldo, der schon in der ersten Mannschaft des FC Rio Fußball spielt. Das Choucroute royal mit dem in dünnen Streifen geschnittenen und in Crèmant gekochten Sauerkraut wird serviert und wir müssen darauf achten, dass es über den Erzählungen von Gerd nicht kalt wird. Ich überlege, wie ich meine Freunde auf die Stadtbesichtigung morgen einstimmen kann: Wir gehen in die Église Saints-Pierre-et-Paul, eine der größten und imposantesten Kirchen des Nordelsaß. Davor steht in Lebensgröße Otfrid von Weißenburg, der erste namentlich bekannte althochdeutsche Dichter (dies für die Bildungsbeflissenen unter uns). Weiter wandern wir zur Retraite von Stanislaw Leszczyński, dem polnischen König, der nach Weißenburg ins Exil geflohen ist und von hier reiste seine Tochter Maria nach Versailles, „pour devenir la Reine de France“. Über den vue pittoresque geht es ins Cafè zu Madame Criqui. Aber ich glaube, es wäre jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt diesen Spaziergang vorzustellen, zumal Gerhard gerade Gerds Redefluß unterbricht und ihn fragt, ob er nur wegen des Klassentreffens gekommen sei. „Ja, wegen des Treffens, aber nicht nur“, erläutert Carmen, „es ist auch sein Heimweh und gesundheitliche Gründe, die für den langen Flug ausschlaggebend sind“. „Ja, ja“, meint Dieter, „im Alter, da poltern die Beschwerden.“ „Mein Gerd hatte eine Männerkrankheit, er mußte sich die Prostata entfernen lassen wegen Krebs und jetzt wollen wir in Deutschland lernen, wie wir damit umgehen können“, sagt Carmen. Gerd ist diese direkte Sprache seiner Ehefrau nicht so recht, bemerke ich, aber die Ehefrauen am Tisch nicken interessiert. „Wir haben andere Formen der Liebe entdeckt“, spricht Carmen fröhlich weiter und Christa meint, sie kenne da einen Vortrag von Walther Lechler mit dem Thema Sensualität statt Sexualität. Alois rutscht unruhig auf seinem Stuhl herum, Gerhard öffnet den oberen Knopf seines Hemdkragens und Elgard zwinkert mir zu. „Aber diese Sensualität ist doch nur eine Ausrede alter Männer. Wenn sie nicht zur körperlichen Liebe fähig sind, werden sie philosophisch“, entgegnet Carmen und ich frage sie, woher sie über dieses Thema so fundiert Bescheid weiß. Sie sei Urologin und in Brasilien gehe man mit diesem Thema viel ungezwungener um. In Heidelberg sei ein Spezialist auf dem Gebiet der erektilen Dysfunktion. Viagra und Levitra und all die anderen Mittel helfen da nicht weiter. Das Mittel ihrer Wahl sei SKAT, also die Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie. Gerd hat inzwischen den Raum verlassen, meine anderen Klassenkameraden wollen auch aufstehen, nur die Ehefrauen wollen von Carmen mehr darüber hören. Ich entschuldige mich, ich müsse noch die Unterlagen für die morgige Stadtführung zusammen stellen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen sitzt Carmen im Kreis von Eva, Resi und Marianne. Sie tuscheln, sie lachen, sie sind vergnügt. Wegen der Regenwolken schlage ich vor, heute das Fort Schoenenbourg der Maginot-Linie zu besichtigen. Gutes Schuhwerk und warme Kleidung sind zu empfehlen, um durch die Kasematten dieser unterirdischen Festung etwa 3 km bei einer Temperatur von 12 ° C zu gehen. Ich habe eher den Eindruck, die Frauen möchten mit Carmen ins Cafè zu Madame Criqui, um noch mehr über SKAT zu erfahren. Und wir Männer, wir könnten doch in der Brasserie au bon bière wenigstens für ein paar Stunden unserem Altmännerdasein entrinnen. Was kümmern uns die Schlachten vergangener Zeiten, wenn unsere Schwerter stumpf geworden sind. Und so wie damals Stanislaw Leszczyński flüchten wir zwar nicht vor unserem eigenen Volk, aber zurück in unsere Erinnerungen: wie war das damals mit Connie in Amsterdam oder gar mit Annabelle in Paris? Jeder kann bei amère bière über seine Eroberungen mit leuchtenden Augen berichten.
Beim Abendessen mit baeckeoffe und pinot noir schlagen unsere Frauen für den nächsten Tag einen Ausflug nach Heidelberg vor. In dieser romantischen Stadt könne man mit etwas Hilfe die Liebe neu entdecken. Und dort gäbe es das Brauhaus Zum Reichsapfel mit Pils, Porter und Schwarzbier. Allerdings sollten wir nicht zu viel davon trinken, da die Reaktionen mit dem Wirkstoff Alprostadil nicht vorherzusehen sind. Die Zimmer im Romatik Hotel Zum Ritter in Heidelberg sind schon gebucht.
…………………………………………………………………………………………………
Nachdem ich den Text an meine Schulfreunde verschickt habe, ruft mich spätabends ein Klassenkamerad an: „Hast Du das alles erfunden oder bist Du selbst betroffen?“ fragt er. „So was kann man nicht erfinden,“ erkläre ich ihm, „ich habe diese Prostataoperation überstanden und bin nun in einer Selbsthilfegruppe für Männer. Wir nennen uns selbst die SKAT-Runde und erzählen von den SKAT-Spielen mit unseren Frauen. Es ist nicht so einfach die richtige Einstichstelle zu finden und dann sollte auch die Dosierung für den Wirkstoff Alprostadil stimmen. Bei manchen reichen schon 10 mg, andere brauchen 20 oder gar 40 mg, das muß man ausprobieren. Eine zu geringe Dosis bringt nicht die gewünschte Standfestigkeit, eine zu hohe Dosis führt zu einer stundenlangen schließlich schmerzhaften Erektion. Willst Du mal vorbei kommen?“, frage ich meinen Schulkameraden, „dann bringe gleich eine Spritze mit.“ „Nein, nein,“ antwortet er, „ich interessiere mich nur rein theoretisch dafür!“
Ich erkläre ihm noch, dass SKAT bei manchen Männern nicht hilft. Ein Teilnehmer unserer SKAT-Runde unterzieht sich in mehreren Operationen einer Geschlechtsumwandlung. So kann er als mehrfacher Vater immerhin noch seine Sexualität als Frau erleben. „Du siehst, es gibt immer einen Weg, sich weiter als lebendiger Mensch zu fühlen,“ beende ich das Gespräch.
Zu meinen Lesungen bringe ich hin und wieder eine SKAT-Spritze mit, um deren Wirksamkeit zu demonstrieren. Dies schafft auf der einen Seite mehr Aufmerksamkeit für die Literatur, andererseits könnte es ein Versuch sein, interaktives Schreiben zu generieren. Was meint ihr dazu?
Docter says I‘m all right, but all the time I’m feeling blue
C: 01/16 JS

Mehr zum Thema
Diesen Inhalt jetzt auf Facebook teilen!
Diesen Inhalt jetzt auf Twitter teilen!

Kommentare

Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.