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"Postfaktisch" - Das (Un-) Wort des Jahres

"Postfaktisch" - Das (Un-) Wort des Jahres

10.12.2016, 22:50 Uhr
Beitrag von wize.life-Nutzer

Postfaktisch – das (Un)Wort des Jahres.

Können Fakten lügen? Können Wahrheiten unwahr sein? Könnte es sein, dass 2 x 2 doch nicht 4, sondern vielleicht eher 3 oder aber auch 5 ist – oder gar beides, sowohl als auch? Sind die Zeiten vorbei, in welchem man sich auf Zahlen, Messergebnisse, Resultate mathematischer Rechenoperationen absolut verlassen konnte? Gibt es Fakten jenseits oder hinter den Fakten, die alles bisher als sicher Geglaubte in Frage stellen? Ist die Trennlinie zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir glauben oder gar fühlen, doch nicht so scharf, wie bisher angenommen?

Versuchen wir einen 'Faktencheck':

Zur Zeit scheint die Welt sich in einer Phase extremer Unsicherheit zu befinden. Wo man auch hinschaut, geraten Systeme, Denkgebäude, Werte, Ordnungen, Glaubensfundamente und Strukturen ins Wanken, die man noch vor kurzem als 'ewig gültige' bezeichnet hat. Was gestern noch als unabänderlich galt, wird plötzlich bezweifelt, in Frage gestellt, gilt nicht mehr.

Wenn der Boden, das Fundament, auf dem ein Gebäude steht, ins Wanken gerät, besteht die Gefahr, dass alles zusammenbricht. Nichts ist mehr sicher. Bei uns Menschen erzeugt Unsicherheit Angst, im Extremfall auch Panik. Wir fühlen uns wohl, wenn wir vorausschauend planen können, wenn wir uns verlassen können, wenn wir darauf vertrauen können, dass die Dinge so laufen, wie wir es gewohnt sind. Probleme entstehen, wenn etwas 'aus dem Ruder läuft', wenn wir plötzlich merken, dass wir nicht mehr 'auf Kurs' sind.

In der Politik sind es die Regierungen, die das Steuer in der Hand haben, die also den Kurs bestimmen. Bei stürmischen Wetterlagen kann es schon mal Probleme geben, das Schiff auf Kurs zu halten. Um so wichtiger ist es in dem Falle, dass man sich auf den Steuermann verlassen kann. Seine Entscheidungen trifft der Skipper auf der Basis von Fakten, von Daten über den Standort, die Kursrichtung, Wind, Wetter und Zielkoordinaten. Je genauer die Daten, um so sicherer ist die Fahrt.

Unter Fakten versteht man im allgemeinen wissenschaftlich erhobene bzw. erhebbare Daten. Will man sein Handeln darauf gründen, muss man sich darauf verlassen können, dass die Fakten 'wahr', also richtig sind. Falsche oder unsichere Daten führen zu falschen Schlüssen und folglich zu falschem Handeln.

Im politischen Bereich gibt es meistens kein 'falsch' oder 'richtig'. Oft genug müssen Kompromisse gefunden und eingegangen werden. Interessenkonflikte müssen überwunden, Gegensätze ausgehandelt, Handlungswege vereinbart werden. Politik ist die Kunst des Möglichen – so hat es Bismarck einmal formuliert. Was aber das Mögliche ist, wird oft genug bestimmt durch die 'normative Kraft des Faktischen', also durch bestehende, nicht zu ändernde Tatsachen. Man muss also die Fakten/Tatsachen in seine Erwägungen und Planungen einfließen lassen.

Hier nun beginnen aber die Schwierigkeiten, die uns in der Gegenwart so große Probleme bereiten. Wir waren es gewohnt, Fakten als solche anzuerkennen, Tatsachen nicht in Zweifel zu ziehen. Fakten galten bisher als nicht diskutierbar. Seit einiger Zeit hat sich da Entscheidendes geändert. In der politischen Diskussion scheint es neuerdings nicht mehr so wichtig zu sein, ob eine Behauptung stimmt, ob sie also durch Fakten belegt ist. Wichtig für die Außenwirkung ist vielmehr, ob sie STIMMIG ist, d.h. ob sie im Einklang steht mit einer bestimmten Sichtweise. Wenn Letzteres der Fall ist, können Lügen jeder Art verbreitet werden – vorausgesetzt, sie finden ein Publikum, das bereit ist, sie zu glauben. Das ist die Stunde der Populisten, die es mit Hilfe der neuen Medien leicht haben, Stimmungen zu erzeugen, indem sie Meinungen und Ideologien zu 'Fakten' erklären

Eigentlich ist das 'Postfaktische' keine so neue Entwicklung. Immer schon haben Propagandisten sich die leichte Manipulierbarkeit der Massen zunutze gemacht. Neu sind allenfalls die Methoden und Möglichkeiten, die den heutigen Populisten durch die modernen Kommunikationsmittel zur Verfügung stehen. Wer sie geschickt einzusetzen versteht, kann nicht nur Wahlen entscheiden, sondern soziale Gruppen und ganze Völker gegeneinander aufhetzen, Krieg und Terror erzeugen. Wir werden noch viel lernen müssen, um in 'postfaktischen Zeiten' mit diesem Übel fertig zu werden. Wir sollten uns davor hüten, alles zu glauben, was uns als 'Fakten' verkauft wird, aber auch davor, unsere Entscheidungen allzusehr von Gefühlen, Stimmungen leiten zu lassen statt von Fakten.

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3 Kommentare

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Ich finde kein Wort des Jahres passender als dieses.
In Zeiten, in denen ein Gauland gelassen zugibt, dass man sich gerne außerhalb von Fakten bewegen darf, und das nicht mal den Zulauf zu seiner Partei dämpft ...
Ich schrieb es vorhin in einem anderen Beitrag: Postfaktisch ist für mich das neue dämlich.
  • 11.12.2016, 09:18 Uhr
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Friedheln, Danke für deinen klaren Beitrag
  • 11.12.2016, 00:47 Uhr
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Wie wohltuend, Menchen wie dich Friedhelm,
hier lesen zu dürfen! Danke für deinen Beitrag.
  • 10.12.2016, 22:58 Uhr
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