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Zwischen Drill und Misshandlung: Johanna Haarers „Die deutsche Mutter und ih ...

Zwischen Drill und Misshandlung: Johanna Haarers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“

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Von Agentur für Bildbiographien Susanne Gebert - Freitag, 17.04.2015 - 13:18 Uhr

„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ ist glücklicherweise ebenso Geschichte wie die 12 Jahre des „1000jährigen Reiches“. Doch es ist zu befürchten, dass der ehemals sehr populäre NS-Ratgeber mehr Schaden in den Köpfen und Herzen einer ganzen Kindergeneration angerichtet hat, als bislang vermutet wurde.

„.. Die „Bibel“ jeder jungen Mutter der damaligen Zeit war das Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Dr. Johanna Haarer. Diese Frau scheint mir eine rechte Preußin gewesen zu sein, denn ihr Hauptanliegen waren Sauberkeit, Pünktlichkeit, Genauigkeit im Messen und Wiegen, kurz ein sehr strenges Reglement ...“

Das kleine Mädchen, Jahrgang 1937, das nach dem „preußischen“ Reglement der deutsch-österreichischen Lungenfachärztin Dr. Johanna Haarer großgezogen werden sollte, hatte Glück im Unglück: Die lieblose Aufzucht ihres Babys nur unter den Aspekten „Sauberkeit, Pünktlichkeit und Genauigkeit“ bekam seiner jungen Mutter nicht gut; der Kinderarzt diagnostizierte wenige Wochen nach der Geburt eine Unterernährung des Babys durch zu geringen Milchfluss bei seiner gestressten Mutter. Daraufhin wurde Johanna Haarers Kinderdrill-Bibel kurzerhand entsorgt und das Mädchen durfte wie später auch ihre drei jüngeren Geschwister ohne Ratgeber, dafür aber mit „Liebe und Kamillentee“ aufwachsen.

Wehret den Anfängen!
Dieses Glück hatten viele Kinder der NS-Zeit nicht; vom Erscheinungsjahr 1934 bis zum Kriegsende wurden 700 000 Exemplare der „Haarer-Bibel“ verkauft und eifrig gelesen. Doch auch nach dem Ende des „Dritten Reiches“ war der Spuk noch lange nicht vorbei. 1949 kam das Buch unter dem entnazifizierten Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ wieder auf den Markt und blieb dort bis ins Jahr 1987. Inhaltlich war es von Ausführungen zum Thema „Rassenhygiene“ und vom nationalsozialistischen Pathos entrümpelt worden, doch viele pädagogische Ansätze blieben.

„Wehret den Anfängen“ ist eine oft wiederholte Warnung Haarers, denn der vom NS-Regime propagierte Mütterkult hielt nichts von einer liebevollen Mutter-Kind-Beziehung. „In unseren Augen muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl.“ So klar und deutlich wurden die pädagogischen Prinzipien des „1000jährigen Reiches“ erstmals im September 1935 vom „Führer“ höchstpersönlich in einer Rede vor 50.000 HJ-Jungen öffentlich propagiert. Vorsätze dieser Art ließen sich natürlich nicht mit einem Nachwuchs vereinbaren, der durch allzu viel Mutterliebe „verweichlicht“ und „verzärtelt“ worden ist. Und dass „Affenliebe“ Kinder, ja sogar schon Babys, verzöge, war einer der festen Glaubensätze Haarers und vieler anderer auch:

„Vor allem mache sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlaß mit dem Kinde abzugeben. Das tägliche Bad, das regelmäßige Wickeln des Kindes und Stillen bieten Gelegenheit genug, sich mit ihm zu befassen, ihm Zärtlichkeit und Liebe zu erweisen und mit ihm zu reden. Die junge Mutter hat dazu natürlich keine Anleitung nötig. Doch hüte sie sich vor allzu lauter Bekundung mütterlicher Gefühle.“

Ein richtig gepflegtes Kind riecht nicht!
In Haarers Anleitung zu frühkindlicher Dressur dreht sich viel um Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit. Nur wenig hat sie zu sagen über die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung von Babys, obwohl bereits seit den 1920er Jahren viele entwicklungspsychologische Erkenntnisse darüber vorhanden waren. Haarers Konzept: ihre eigenen Erfahrungen als Mutter. Eine pädiatrische Ausbildung hatte die Ärztin für Lungenkrankheiten nicht, dennoch galt sie auch lange nach der Nazizeit als Kapazität auf dem Gebiet frühkindlicher Pädagogik.

Es scheint ein steter Kampf zu sein, den die deutsche Mutter mit ihrem ersten Kind zu führen hatte. Von „förmlichen Kraftproben zwischen Mutter und Kind“ ist die Rede, und selbst das Füttern wird zur Schlacht, bei der nur eine gewinnt. Die Mutter:

„Das Baby soll mit festem Griff bewegungslos gehalten werden, so daß es nur noch den Mund öffnen und schließen kann und schlucken muß, was der Erwachsene ihm zuteilt, und zu einem Zeitpunkt, den dieser bestimmt.“

Kinder sollten so früh wie möglich lernen, sich passiv den Wünschen anderer zu unterwerfen und das zu schlucken, was man ihnen zuteilt; nichts anderes lehrt Haarers rabenschwarze Pädagogik.
Ihr wichtigster Kampf galt allerdings dem „berüchtigten Kleinkindergeruch“, den sie in ihrem Ratgeber ausführlich beschreibt:

„Stellen wir ihnen die Durchnässung mit Harn, die Beschmutzung mit Stuhl und schlechten Gerüchen als etwas Abscheuliches hin, und zeigen wir ihnen, daß derartiges immer sofort entfernt, beschmutzte Kleidung gewechselt werden muß. Wenn wir dies unermüdlich tun, bekehren wir das Kind bald zu unserem Standpunkt. Es wird zunehmend unglücklich und unbehaglich, wenn es naß und schmutzig ist. Es verlangt nach Sauberkeit. Haben wir es soweit, dann ist der Kampf schon bald gewonnen.“

Der kleine Haustyrann
Der Kampf gegen den Kleinkindergeruch war für Haarer außerordentlich wichtig und erst dann erfolgreich beendet, wenn Kinder „trocken“ waren und ihr Geschäft möglichst noch vor dem ersten Geburtstag auf dem Töpfchen erledigen konnten. Das war in einer Zeit mit Stoffwindeln und ohne Waschmaschine sicherlich auch aus praktischen Gründen erstrebenswert, trotzdem verblüfft es, wie lange sich die Mär hielt, ein Kind müsse so früh wie möglich ohne Windeln auskommen – mit dem Einzug von Wegwerfwindeln und Waschmaschinen in deutsche Haushalten gab es keine praktischen Notwendigkeit mehr für die Eile. Entwicklungsphysiologisch entwickeln Kinder übrigens frühestens im zweiten Lebensjahr ein Gefühl für ihre Blasenfüllung.

Auch andere Thesen aus „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hielten sich hartnäckig über viele Jahre: So sei es beispielsweise notwendig, dass Mutter und Kind nach der Geburt in getrennten Zimmern untergebracht werden. Diese frühe Trennung wurde noch bis weit in die 1970er Jahre praktiziert, obwohl sehr viele wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig dagegen sprachen. Stillen gleich nach der Geburt? Für Haarer schon wieder „Affenliebe“; Mutter und Kind hatten 24 Stunden lang zu warten, bevor der Säugling das erste Mal angelegt werden durfte.

Johanna Haarers Ratgeber wurde schon kurz nach seinem Erscheinen zum Standardwerk. Die Erkenntnisse aus „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ dienten als Grundlage für die „Reichsmütterschulung“ der NS-Frauenschaft ebenso wie für das Fach „Säuglingspflege“ des BDM. Millionen junger Mädchen und Frauen lernten, dass Sauberkeit, Pünktlichkeit und Genauigkeit das „A und O“ im Umgang mit ihrem Baby sein sollten, allzu große Nähe und „Affenliebe“ hingegen zu vermeiden wären. Babys und Kleinkinder hatten „Ruhe“ zu halten, das heißt, sie sollten vor allem sich selbst überlassen bleiben. Freude, Zuneigung oder gar Trösten waren in dieser unheilen Kinderwelt verpönt.

An der Grenze zur psychischen Misshandlung bewegte sich Haarer mit ihren Empfehlungen zum Umgang mit kindlichen Gefühlsäußerungen. War ein Baby beispielsweise hungrig (oder gar gelangweilt!) und meldete sich außerhalb der fest reglementierten Essenszeiten um 6, 10, 14, 16 und 20 Uhr, sollte kein Pardon gegeben werden:

„Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen. Das Kind begreift unglaublich rasch (…). Nach kurzer Zeit fordert es diese Beschäftigung mit ihm als ein Recht, gibt keine Ruhe mehr, bis es wieder getragen, gewiegt oder gefahren wird – und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig."

Das Baby als innerer Feind, dessen tyrannischen Bedürfnisse permanent niedergerungen werden mussten? Die Schlachten, die hier zwischen Mutter und Kind geschlagen werden sollten, waren ebenso menschenverachtend wie das gesamte Menschenbild der NS-Ideologie. Und kannten in diesem Fall nur einen Verlierer: das Kind.
Generell waren alle elementaren kindlichen Gefühlsregungen – Lachen, Lautsein, Weinen oder Zorn – zu unterdrücken und selbstverständlich galt das Schlagen von Kindern als Ultima Ratio, sollte der „kleine Haustyrann“ den Ermahnungen seiner freundlichen aber distanzierten Mutter nicht wunschgemäß Folge leisten. Frei nach dem Motto: „Schläge haben noch nie einem Kind geschadet“.

Experten gehen heute davon aus, dass „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ eine der folgenreichsten Buchveröffentlichungen des Dritten Reiches war. Viele der Empfehlungen Haarers stehen entwicklungspsychologischen Erkenntnissen (die auch zu ihrer Zeit größtenteils schon bekannt waren) diametral entgegen und sind darauf angelegt, ein Kind in seiner Bindungs- und Liebesfähigkeit zu brechen, sich selbst als „nicht wichtig“ wahrzunehmen und auf emotionsloses „Funktionieren“ zu trimmen. Schockierend ist dabei nicht nur, dass der Ratgeber in der Zeit des Nationalsozialismus ein Bestseller war, sondern dass er auch später lange Zeit in vielen Bücherregalen junger Eltern stand. Es kann nur spekuliert werden, wie eifrig Haarers Ratgeber während der NS-Zeit und auch danach befolgt worden ist, und wie viele Kinder in den Abgrund „zwischen Drill und Misshandlung“ geführt worden sind. Vermutlich viel zu viele.

Weiterführender Artikel:
„Falsch erzogen“, DIE ZEIT Nº 29/2005
http://www.zeit.de/2005/29/Kinder_komma__Kinder

Dieser Artikel ist ein Beitrag aus meinem Blog:

http://generationen-gespräch.de/

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2 Kommentare

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furchtbar, furchtbar, furchtbar. Gott sei Dank ist diese Theorie nicht bis ins deutsche Banat vorgedrungen. Ab und zu ein Klaps, aber ansonsten Liebe und Kamillentee
sorry Dagmar ich bin 70 Jahre alt und plappere Niemand nach. Ich geb.1943 habe eben mal einen Klaps bekommen, meine Kinder nicht. Ich habe als Erzieherin auch kein Gesetz gebraucht um den Kindern eine schöne Kindergartenzeit zu ermöglichen.
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