Nach einer Woche mit Shutdown und Ausgangsbeschränkungen merken wir langsam, wie das Virus in unseren Alltag und in unsere sozialen Beziehungen eingreift. Darüber könnte man mal nachdenken - und der Feiergesellschaft den Stecker ziehen, findet unser Autor. Eine Kolumne von Hermann Weiß
Ich weiß nicht, ob Sie schon mal ein Buch von Leif Randt gelesen haben.
"Schimmernder Dunst über Coby County" zum Beispiel spielt in einem von jungen Leuten in schicken Berufen bevölkerten Städtchen am Meer, über das Randt peu à peu eine Ahnung von Apokalypse hereinbrechen lässt.
Sehr lesenswert, aus naheliegenden Gründen - also, wenn man mal davon ausgeht, dass es den meisten von uns in diesem Land bis heute einigermaßen gut gegangen ist. Und dass Corona der erste, richtige Stresstest für alle nach dem Krieg Geborenen ist, von den Babyboomern über die Millenials bis zur Generation Z und den Pubertieren vom Fridays for Future-Club.
Sollte "Coby County" gerade nicht lieferbar sein - zum Beispiel, weil Bücher in der Prioritätenliste des von Ihnen bevorzugten Onlineversandes hinter Klopapier und Sanitätsartikel gerutscht sind - kein Problem! Bestellen Sie online bei Ihrem Local Dealer und bestellen Sie Leif Randts vor Kurzem erschienenen, neuen Roman "Allegro Pastell" gleich mit.
Sie unterstützen damit a) den Buchhändler, der nach dem Shutdown wegen Corona seinen Laden schließen musste. Sie helfen b) dem Autor, dessen Buch zu Recht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert gewesen ist und dessen Lesungen nun eine nach der anderen abgesagt werden.
Party bis ultimo - und das Coronavirus feiert
Außerdem handelt es sich c) bei "Allegro Pastell" um ein Buch, das Ihnen die Augen öffnen könnte - wenn Sie sich wie ich die ganze letzte Woche gefragt haben, was zur Hölle eigentlich in die Leute gefahren ist, die bis zur Anordnung von Ausgangsbeschränkungen und entgegen allen Ratschlägen und Warnungen weiter Party gemacht und dieses f*** Corona-Virus auf diese Weise munter weiter verbreitet haben.
Nach der Lektüre von Randts "Allegro Pastell" glaube ich: Die können nicht anders.
Aber, der Reihe nach.
Letzte Woche habe ich, gefühlt, in zwei Welten gelebt.
Panikorchester der Risikogruppe 50+
Daheim saßen wir morgens beim Frühstück. Zu zweit. Zeitung lesend die eine. Scrollend im Smartphone der andere. Dann der Abgleich: Corona-Infektionen in Italien, Frankreich, Deutschland, vor der eigenen Haustür, in der eigenen Stadt. Da wussten wir noch nicht, dass uns dieses neue Ritual von jetzt an bis Wer-weiß-wie-lang begleiten würde. Genauso wie die Verhaltenstipps von Ärzten, Virologen, Politikern zum Umgang mit dem Virus, zu Ansteckungswegen und was jeder Einzelne tun kann, um der Verbreitung entgegenzuwirken.
Draußen, in der anderen Welt, versuchten wir, das Beste aus der Situation zu machen: Wenn wir rausgingen, nur allein oder zu zweit. Wir hielten Abstand, gingen nicht in die Cafébar, telefonierten oder chatteten mit Freunden statt sie zu treffen. Solche Dinge. Aber im Vergleich mit dem überwiegenden Teil der Leute um uns herum schnitten wir ab wie ein komplett spaßbefreites, grundlos verängstigtes Panikorchester der Risikogruppe 50plus.
Fassungslos über Sorglosigkeit
Alles zwischen 20 und 40 dagegen machte sich breit, spielte Fußball im Park, saß in Gruppen zum Shisha-Rauchen am Fluss. Junge Eltern tobten mit ihren Kindern. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Nein. Wenn ich ehrlich bin, war ich fassungslos. Abends las ich Leif Randt.
"Die ersten warmen Tage eines Jahres trugen in den großen Städten ein soziales Stresspotenzial in sich, in Berlin ging es darum, möglichst publikumswirksam eine gute Zeit zu haben."
Berlin, dachte ich, ohne es zu wollen, ist jetzt überall. Tanz auf dem Vulkan. Tod der Vernunft. Weil ich nicht schlafen konnte, holte ich mir ein Bier.
#boomerremover? Euer Ernst?
In einem Corona-Liveticker stand an diesem Abend als letzte Meldung, dass die Polizei in Freiburg, eine Ansammlung von 150 (!) jungen Menschen auflösen musste, weil sie nicht nach Hause gehen, sondern weiter feiern wollten. Ich dachte: Die legen es drauf an. Und wenn man sich anschaut, was unter #boomerremover auf Twitter so abgeht, wo die Jüngeren den Älteren den (Corona-)Tod an den Hals wünschen, könnte man das auch glatt glauben.
Ob man Bücher unter Eindruck anders liest als sonst?
Ich weiß es nicht. Aber als ich in dieser Nacht der weiblichen Protagonistin aus Randts "Allegro Pastell" in eine Berliner Clubnacht folgte, hatte ich kurz, einen Moment lang, das Gefühl als stünde ich selbst unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen.
"Für Glücksmenschen wie uns ist es biographisch sinnvoll, die von chemischen Drogen induzierten Downs kennenzulernen", notiert die 29-Jährige in einem von ihr für einen Freund verfassten "Rauschprotokoll": "Sie machen uns wenigstens ansatzweise erfahrbar, wie sich ein klinischer Serotoninmangel anfühlen könnte. Ein Down ermöglicht Empathie und Solidarität (beachte: Ich nutze das Wort jetzt auch abseits des Rauschs)."
Okay, dachte ich, voll elektrisiert.
Aber: Haben wir die Zeit, darauf zu warten, bis ihr von euren Trips herunterkommt?
Ich glaube nicht.
Ich glaube, es ist Zeit, dass wir der Spaßguerilla jetzt erst einmal den Stecker ziehen.
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