Immunologe zu Coronamaßnahmen: "Die Reaktion der Politik ist maßlos"

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Die Angst vor dem Coronavirus ist groß

Der Immunologe Stefan Hockertz hält die Maßnahmen gegen das Coronavirus für völlig überzogen und Panikmache. Covid-19 sei nicht gefährlicher als eine Influenza – die Kollateralschäden würden die Gesellschaft allerdings über Jahre belasten. Was spricht für diese Ansicht - und was dagegen?

Vergangene Woche hatte der frühere SPD-Gesundheitspolitiker und Amtsarzt Wolfgang Wodarg mit seinen Zweifeln am Ausmaß von Covid-19 viel Kritik auf sich gezogen.

Er ist jedoch nicht der einzige, der glaubt, dass die Fokussierung auf die durch das Coronavirus Sars-CoV-2 ausgelösten Krankheits- und Todesfälle einen falschen Eindruck vermittelten und Panik im Spiel sei.

"Die Reaktion der Politik ist maßlos"

Auch Immunologe Stefan Hockertz hält das Virus und seine Auswirkungen für nicht gefährlicher als eine Influenza und kritisiert daher die getroffenen Maßnahmen wie den Shutdown der Wirtschaft und des sozialen Lebens als völlig unverhältnismäßig.

Wörtlich sagte Hockertz diese Woche im Gespräch mit dem Radiosender 94,3 rS2: "Die Reaktion der Politik ist unverhältnismäßig, sie ist autoritär, sie ist rechthaberisch, sie ist maßlos."

Was veranlasst ihn zu dieser Aussage?

Hockertz war 2003 und 2004 Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische Toxikologie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, davor forschte er unter anderem für die Fraunhofer Gesellschaft, inzwischen ist er geschäftsführender Gesellschafter der tpi, einer Firma für pharmakologische Technologieberatungen.

In seiner Argumentation teilt er einige Annahmen jener Virologen, die die Regierung in seinen Augen falsch beraten.

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So verweist er etwa darauf, dass der Großteil der Infektionen mild verläuft (er spricht von 95 Prozent, laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind es mindestens 80 Prozent).

Gefährdet seien vor allem Alte, Menschen mit Vorerkrankungen und Raucher – auch das ist Common Sense.

Faktor 10 bei der Dunkelzifffer?

Ebenso, dass es eine Dunkelziffer an Infizierten mit leichtem Verlauf gibt, die die Todesrate (in Deutschland statistisch rund 0,5 %) de facto nochmals schrumpfen lasse.

Hockertz erwähnt den Faktor 10 - demnach ist die tatsächliche Zahl der Infizierten vermutlich zehn Mal höher als die offiziell bestätigten Zahlen. Diese Einschätzung bewegt sich im Rahmen internationaler Annahmen.

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Die hohe Dunkelziffer wird darauf zurückgeführt, dass einige Menschen so gut wie keine Symptome spüren, sich nicht krank fühlen und daher auch nicht auf das Coronavirus testen lassen. So taucht ihr Fall nicht in der Statistik auf.

Viele Tests in Deutschland

Auf Deutschland bezogen schätzen einige Virologen die Dunkelziffer niedriger ein, da das Testaufkommen verhältnismäßig hoch sei und auch Proben von Patienten mit weniger schweren Verläufen genommen würden würden.

Hockertz: Ähnlich wie Influenza - auch in Verbreitung

Hockertz‘ Fazit ist, dass Sars-Cov-2 nicht gefährlicher sei als eine normale Influenza – diese Ansicht wird von anderen Fachleuten bezogen auf den Krankheitsverlauf geteilt.

Anders als viele schätzt er allerdings auch die Gefahren durch die Verbreitung als Virus, gegen das noch keine Immunität bestehe, als Influenza-ähnlich ein.

Influenza und Coronavirus im Vergleich

Beim Blick auf die Zahlen der Grippe-Infizierten dieser Saison in Deutschland liegt die Frage zunächst tatsächlich nahe, warum der Epidemie derart viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als der Influenza:

Bundesweit gibt es nach den jüngsten Zahlen des RKI in dieser Saison seit November 2019 mehr als 165.000 nachgewiesene Influenza-Fälle und 265 Tote – auch hier gilt: Die Dunkelziffer ist erheblich höher.

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Laut Zahlen des RKI, Stand Freitag Mitternacht, waren 42.288 Menschen in Deutschland mit dem Coronavirus infiziert, 253 sind daran gestorben – laut John Hopkins Universität bereits 267. Erstmals wären damit mehr Covid-19- als Influenza-Tote bestätigt.

Aber diese Zahl ist immer noch erheblich niedriger als die der Grippetoten in der Saison 2017/2018, die bei 1674 labor-bestätigten Influenza-Toten auf rund 25.000 (laut RKI konservativ) geschätzt wird.

Angst vor Systemcrash

Ausschlaggebend für die von der Politik angeordneten Maßnahmen gegen Covid-19 ist, dass das Virus nach Ansicht von Forschern für den menschlichen Organismus völlig neu ist. Deshalb bestehe dagegen keinerlei Immunität in der Bevölkerung. Was dazu führe, so das Argument, dass seine Verbreitung exponentiell steige, wenn das öffentliche Leben nicht eingeschränkt werde.

Damit, so die große Sorge, könne binnen weniger Wochen das – bislang noch gut funktionierende – deutsche Gesundheitssystem lahmgelegt werden.

Kurve wie in Italien

Bestätigt sehen sich Politik und Forschung durch den Infektionsverlauf in Italien, inzwischen auch Spanien - und die Folgen: Ärzte, die entscheiden müssen, welchen Patient sie noch beatmen. Pflegepersonal, das mehrere Schichten ohne Unterbrechung arbeitet. Särge, die in Lastwagen abtransportiert werden.

Und: Vor den jüngsten Gegenmaßnahmen nahm die Infektionskurve in Deutschland zeitverzögert einen ähnlich steilen Verlauf wie in Italien.

Der Physiker Harald Lesch rechnete vergangene Woche vor, dass das intensivmedizinische System ohne Gegenmaßnahmen binnen acht Tagen an seine Grenzen komme.

Hockertz befürchtet keine italienischen Verhältnisse

Genau diese Einschätzung teilt Hockertz nicht. Seines Erachtens besteht keine Gefahr italienischer Verhältnisse. Seine Argumente:

Statistik: In Wirklichkeit seien viel weniger Menschen am Virus selbst gestorben, vielmehr seien die schweren Vorerkrankungen ausschlaggebend für den Tod gewesen: "Die meisten Menschen, die wir jetzt als Todesfälle zu beklagen haben, wären entweder so oder so gestorben – und zwar sind sie mit Corona gestorben und nicht an Corona", sagt er im Interview.

Pro: In der Tat werden alle Toten, die mit dem Coronavirus infiziert sind, in Italien wie hierzulande als Corona-Tote gezählt. Nach der jüngsten Aufstellung des zuständigen Gesundheitsinstituts in Italien hatten 99 Prozent der Corona-Toten mindestens eine Vorerkrankung, 48,5 Prozent hatten sogar drei oder mehr Erkrankungen. Das Durchschnittsalter lag bei 79,5 Jahren.

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Contra: Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Lungenkrankheit den Verlauf der anderen Krankheiten verschärft – und die Verstorbenen ohne Covid-19 womöglich noch einiges länger gelebt hätten.

Überlastung: Die Systeme in Südeuropa seien schon lange kaputtgespart und chronisch überlastet, jede Grippeepidemie lasse sie zusammenbrechen, so Hockertz. "Nur jetzt wird es uns gezeigt."

Pro: Auch hier stimmt, dass die Systeme kaputtgespart worden sind – in Italien etwa wurden im vergangenen Jahrzehnt Dutzende Krankenhäuser geschlossen. Das Land verfügt bei 60 Millionen Menschen über 5200 Betten, Deutschland mit knapp 83 Millionen Menschen über 28.000.

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Contra: Wenngleich nicht ausgeschlossen, ist es schwer vorstellbar, dass Bilder eines derart überlasteten Systems vor zwei Jahren keinen Weg an die Öffentlichkeit gefunden hätten – auch damals gab es bereits Social Media. Und: In Italien verlief die Grippesaison 2016/2017 nach Medienberichten vergleichsweise schwer – nach einer Hochrechnung des Fachportals "Quotidianosanita.it" wird von nahezu 35.000 Toten ausgegangen. In der schwersten Grippewoche, so heißt es, habe es 329 Todesfälle pro Tag gegeben gegenüber den erwarteten 231.

Die 600 bis 800 Toten zu Coronavirus-Hochzeiten sind daher nochmals von einer ganz anderen Dimension.

Hygiene: Die Krankenhaushygiene in südlichen Ländern respektive Italien sei "erbärmlich", weshalb der Tod vieler Menschen in Wirklichkeit auf Krankenhauskeime zurückzuführen sei.

Pro: Nach den Zahlen des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) starben in Italien 2015 (das sind die jüngsten Zahlen) 10.762 Menschen – das Land nimmt einen traurigen Spitzenplatz innerhalb der EU ein. In Deutschland waren es immerhin 2363 Tote. Dass Keime bei der Todeszahl eine Rolle spielen, ist naheliegend und wird auch international diskutiert.

Contra: Letztlich bleibt Spekulation, in wie vielen Fällen das zutrifft. Und folgt man der Annahme, geht die Rechnung zumindest auf die Niederlande bezogen nicht auf: In der ECDC-Studie schneiden sie besonders gut ab - mit 206 Todesfällen durch Keime. Allerdings hat das Land bereits jetzt 435 Covid-19-Tote (bei 7469 Infizierten) zu beklagen, damit mehr als Deutschland. Es spielen immer viele Faktoren eine Rolle – doch nach der Hygiene-Hypothese müsste diese Zahl geringer sein.

Luftverschmutzung: Ein weiterer Grund für Hockertz: "Das heißt, wir haben viel mehr vorgeschädigte Patienten." Das wird ebenfalls international diskutiert, da die Feinstaubbelastung in Norditalien besonders hoch ist.

Hockertz glaubt nicht an das ganz neue Virus

Auch in einem anderen Punkt widerspricht Hockertz vielen Virologen: Nach Einschätzung des Immunologen ist das Virus dem menschlichen Organismus gar nicht so fremd. Sonst hätten in der chinesischen Provinz Hubei nicht so schnell Zehntausende Menschen ohne Medikamente wieder genesen können, führt er als Argument für seine These an. Der Körper müsse es erkannt haben.

Hockertz geht von schneller Immunisierung aus

Entsprechend lautet seine Prognose, dass die Pandemie – als solche bezeichnet er sie durchaus – nach rund drei Monaten dank Immunisierung weiter Teile der Bevölkerung abflauen werde. Dies schätzt unter anderem Christian Drosten von der Berliner Charité ganz anders ein. Er befürchtet vielmehr, dass die Infektionszahlen ohne Impfstoff wieder gefährlich steigen, sobald die Maßnahmen gelockert werden.

Und dass sich der Prozess – Lockerung der Beschränkungen, Anstieg der Infektionen – über zwei Jahre hinziehen könnte, bis ausreichend Herdenimmunität besteht.

"Die Angst macht uns krank"

Genau von Virologen wie Drosten hält Hockertz – ohne Namen zu nennen – die Politiker für falsch beraten. "Sie haben natürlich eine große Angst, nicht zu handeln und dann dem Geschehen zuzusehen."

So wie es bei schweren Influenza-Epidemien der Fall gewesen sei, die – so traurig der einzelne Todesfall – letztlich in sozialem Frieden verlaufen seien. Die nun angerichteten Kollateralschäden - Zehntausende Menschen sind allein in Deutschland in ihrer Existenz bedroht, die Folgen sind weltweit sind noch nicht absehbar - würden aber noch "viele, viele Jahre für Unfrieden und Sorge in der Bevölkerung sorgen". Und weiter: "Nicht das Virus macht uns krank, die Angst macht uns krank."

Doch sollte - der Argumentation folgend - eine möglicherweise hohe Todeszahl in Kauf genommen werden - weil in der Saison 2017/2018 auch kaum jemand von den 25.000 Grippetoten Notiz davon nahm? Lässt sich Angst nicht auch auf andere Weise nehmen? Durch die richtige Art der Kommunikation etwa, oder die Wirtschaft unterstützende Maßnahmen?

Hinterfragen ist wichtig

Womöglich wird nie gänzlich zu klären sein, ob die ergriffenen Mittel angebracht war oder ob doch zu schwere wirtschaftliche Einbußen hingenommen worden sind. Gleichwohl ist stets zu hinterfragen, inwiefern Entscheidungen mit Augenmaß getroffen werden, ob sich die Politik nicht von den auf sie einprasselnden Meldungen treiben lässt, ob andere Sichtweisen oder mögliche negative Folgen ausreichend berücksichtigt werden.

Statistiker warnt vor gesundheitlichen Folgeerkrankungen

Letztere müssen nicht immer nur wirtschaftlicher Art sein. So warnt auch der Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer davor, die restriktiven Anti-Corona-Maßnahmen zu lange aufrechtzuerhalten. Seiner Meinung nach könnten potenziell tödliche Folgekrankheiten sonst zunehmen, wie er in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" erläutert: "Die Leute werden Fett ansetzen, es wird Diabetes zunehmen, es wird häusliche Gewalt zunehmen, und es werden Selbstmorde zunehmen. Dauern die aktuellen Maßnahmen zu lange an, drohen ernsthafte Probleme für die Gesundheit der Bundesbürger."

Er gehe davon aus, "dass wir in zwei, drei Wochen mit den aktuellen Maßnahmen aufhören und dass wir uns in zwei Monaten darüber totlachen, wie wir uns haben in Panik versetzen lassen."

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