Die Bundesrepublik war gerade mal 4 Jahre und ich 5 Jahre jung. Das Wirtschaftswunder lief noch nicht. Die Flüchtlinge freuten sich, wenn sie ein Dach über dem Kopf hatten, auch wenn sie beengt wohnten.
So war es auch mit meiner Familie. Vater. Mutter und 3 Kinder in einer Wohnung, die aus Wohnküche, Schlafzimmer, einem Miniflur und Toilette bestand. In der Küche ein großer Herd auf dem gekocht und die Wohnung geheizt wurde. Gewaschen und Zähne geputzt wurde mit kaltem Wasser, so wie es damals üblich war.
Im Winter 1952/53 überstand ich eine schwere Lungenentzündung, von der ich mich sehr schlecht erholte, so dass der Arzt eine Kinderverschickung verordnete. Meine Eltern waren schon damals ehrenamtlich beim Bayerischen Roten Kreuz und meldeten mich deshalb dort an. Wie groß war die Freude als es hieß, dass ich 3 Monate nach Norwegen, nicht in ein Heim, sondern zu einer Familie fahren durfte.
Mitte Oktober ging es los. Ein – damals üblicher – Persilkarton war Kofferersatz und ich durfte zum erstenmal in meinem Leben mit dem Taxi in die nächste Stadt zum Bahnhof fahren, wo der Zug hielt der mich nach Norwegen brachte. Da wir abends losfuhren, dauerte die Reise insgesamt zwei Nächte und einen Tag. Das obligatorische Kärtchen um den Hals auf dem mein Name und die Adresse stand. Ganz stolz waren wir Kinder, so weit reisen zu dürfen. In Kiel wurde der gesamte Zug in eine Fähre bugsiert, die bis Oslo fuhr. Ich erinnere mich noch ganz genau an den dunklen Bauch der Fähre.
Am schönsten war das Einkaufen
In Oslo kamen wir Kinder in einen Wartesaal und spielten fangen und verstecken bis wir nach und nach abgeholt wurden. Als man meinen Name aufrief, fragte ich mich natürlich zu was für Menschen ich kam. Es war eine ganz liebenswerte Familie. Wir haben uns von Anfang an ins Herz geschlossen. Mutter, Vater, eine 14-jährige Tochter und ein 19-jähriger Sohn. Die Schäferhündin Senta nicht zu vergessen.
Nach vier Wochen gab es keine Sprachschwierigkeiten mehr und ich fühlte mich wirklich zu Hause. Da der Vater (Far) einen Gemischtwarenladen hatte, war auch dieser für mich ein großer Spielplatz. Ich durfte „mithelfen“ beim Waren auffüllen und beim Verkauf. Am schönsten war aber das einkaufen. Da ging ich wie eine richtige Kundin in den Laden und Far bediente mich, sehr zum Vergnügen der anderen Kundschaft. Nach dem „Einkauf" ging ich zu Mutter (Mor) in die Küche und sie behielt alles was sie brauchte. Die anderen Sachen kamen wieder in den Laden zurück. Bald lernte ich auch ein Mädchen in meinem Alter kennen und wir wurden sehr gute Freundinnen. Zusammen mit ihrem Bruder haben wir manche Streiche ausgeheckt. Vor allen Dingen das „Skijöring“ machte uns Spaß.
Schneeballschlachten gefielen uns besonders, da Senta, die immer dabei war, versuchte die Schneebälle zu fangen. Die Vorweihnachtszeit mit ihren norwegischen Traditionen waren für mich zwar neu, doch ich genoss sie. Am 12. Dezember, dem Lucia-Tag durfte ich mit einem Lichterkranz Weihnachtslieder singen. Weihnachten mit der gesamten Familie. Großeltern, Tanten und Onkel waren da. Es war für mich, das Nachkriegskind, das Paradies.
Auch hinterher blieben wir in Verbindung. Jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten kamen die obligatorischen Pakete. Nicht nur von Mor og Far, sondern auch von den Großeltern und der Tante.In den 60er Jahren schlief die Verbindung leider ein. Das Leben setzte andere Prioritäten.
Nach 63 Jahren habe ich meine norwegische Familie wieder
Im vergangenen Jahr überlegte ich, ob ich durch das Internet etwas über die Kinder der Familie erfahren könnte. Es gab einen User des gleichen Namens bei Facebook. So schrieb ich ihn an und fragte, ob er mein norwegischer Bruder sei. Keine Antwort kam. Am 15. Oktober diesen Jahres loggte ich mich auf Facebook ein und staunte nicht schlecht als ich Post hatte.
Ja, es war mein norwegischer Bruder und er freute sich genauso wie ich, dass wir uns wiedergefunden haben. Mit der Schwester schreibe ich jetzt auch wieder ganz altmodische Briefe. Auch sie haben mich all die Jahre nicht vergessen. Sogar die Kinder wussten genau wer ich bin, da sie oft von mir hörten. Nach 63 Jahren habe ich meine norwegische Familie wieder.
Mein Weihnachtswunder vom 15. Oktober 2016
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