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Kunst verstehen: Ernst Ludwig Kirchner & sein Berliner-Straßenbilder-Zyklus

Kunst verstehen: Ernst Ludwig Kirchner & sein Berliner-Straßenbilder-Zyklus

Volker Barth
15.11.2016, 20:00 Uhr
Beitrag von Volker Barth

Berlin war und ist sexy, prickelnd, attraktiv und weltoffen! Genau so empfand es der expressionistische Maler Ernst Ludwig Kirchner vor über 100 Jahren als er sich 1911 von Dresden nach Berlin begab. Er zog nachts um die Häuser der Metropole, wobei die Kokotten des Potsdamer Platzes es ihm angetan hatten. Mit Kokotte (frz. cocotte, kindersprachlich ‚Henne, Hühnchen‘, zu französisch coq ‚Hahn‘) bezeichnet man eine elegante Halbwelt-Dame des 19./20. Jahrhunderts.

Im letzten friedvollen Jahr 1913 und kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1. August 1914) begann Ernst Ludwig Kirchner seinen Straßenbild-Zyklus. Dabei handelte es sich um insgesamt elf große Straßenszenen, die zwischen den Jahren 1913 und 1915 entstanden.

In Dresden erfolglos

Ausschlaggebend für den Umzug von Dresden nach Berlin war der mangelnde Erfolg seiner Kunst. Seine Lage besserte sich hier aber nur spärlich, obwohl sich seine Bilder veränderten. So wurden seine runden Formen zackiger, die Striche erschienen „nervöser“ (Kontrast von Landschaft und Großstadt) und seine Farben ließen an Leuchtkraft nach. Jetzt tauchten plötzlich Straßenszenen (es sind zur Zeit die gefragtesten Bilder) in seinem Werk auf. Der deutsche Maler und Grafiker Ernst Ludwig Kirchner zählte zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismuses. In seinen Bildwerken traten der freie Umgang mit Farbe und Form in häufiger Verwendung ungemischter Farben auf.

Biografisches von Ernst Ludwig Kirchner

Ernst Ludwig Kirchner wurde am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg geboren. Den Kinderjahren folgten die Eindrücke und Erfahrungen der Großstadt Dresden - hier wurde dann am 7. Juni 1905 der erste expressionistische Künstlerverein gegründet, durch die Künstler Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff.

Die Gruppe „Brücke“ zu nennen ging vermutlich auf Karl Schmidt-Rottluffs Idee zurück. Diese Künstlergruppe sollte als Verbindung dienen und sich als „Brücke“ zwischen den verschieden Künstlern der modernen Kunst etablieren. Das Ziel der „Brücke“ war es, neue künstlerische Ausdruckswege zu finden. Im Streben nach neuen Ausdrucksformen standen für die Brücke-Künstler Farbe und Form im Mittelpunkt, die Formen wurden aufs Notwendige reduziert.

Im Jahre 1913 gab die von Ernst Ludwig Kirchner verfaßte „Chronik der (Kunstlervereinigung) Brücke“ durch zahlreiche Provokationen den Anstoß zur endgültigen Auflösung der Künstlergruppe am 27. Mai 1913. Im Oktober bezog er sein neues Atelier im Berliner Stadtteil Friedenau, Körnerstraße 45 und es entstanden die ersten Berliner Straßenbilder.

Das Jahr 1914

Mit dem Gemälde Potsdamer Platz erreichte die Serie der Straßenbilder ihren Höhepunkt. Ernst Ludwig Kirchner wurde zunehmend von den Ängsten eines Kriegsausbruches und der Einberufung geplagt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges verbrachte er mit Erna Schilling, einer Tänzerin, den Sommer auf Fehmarn - brach ihn aber ab. Zurück in Berlin meldet sich Kirchner „unfreiwillig freiwillig“ zur berittenen Artillerie.

Von 1915 bis 1917

Nach seinen Straßenbildern im Jahre 1915 meldete sich Ernst Ludwig Kirchner zum Kriegsdienst. Er erlitt körperliche und psychische Zusammenbrüche und kam erstmals in ein Sanatorium nach Königstein. Das Jahr 1916 verbrachte er in Sanatorien, doch sein Gesundheitszustand besserte sich nicht. Ab Anfang 1917 war Ernst Ludwig Kirchner in Davos, im Sommer bezog er mit einer Pflegeschwester die Rüeschhütte auf der Stafelalp. Ab September 1917 war er in Kreuzlingen im Sanatorium, wo er an Lähmungen und Bewusstseinsstörungen litt, trotz allem arbeitete er intensiv weiter. Im September 1918 bewohnte Kirchner ein Haus in Davos-Frauenkirch, das er ausstattete. Er malte eine Reihe von Alpenansichten. Trotz Abgeschiedenheit hielt Kirchner regen Kontakt zur Kunstszene Deutschlands und zog 1923 in das Wildboden-Haus in Davos-Frauenkirch.

Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten zählte Ernst Ludwig Kirchner ab Juli 1937 zu den „entarteten“ Künstlern in Deutschland. Es wurden 639 Werke aus den Museen entfernt und beschlagnahmt, 32 wurden in der diffamierenden Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt, darunter das „Selbstbildnis als Soldat“ (1915).

Das berühmte Selbstporträt zeigt Ernst Ludwig Kirchner nach einem Nervenzusammenbruch und seiner nachfolgenden Entlassung aus dem Militärdienst. Er trägt die Uniform des 75. Artillerie-Regiments. Der fiktive Amputationsstumpf an seinem rechten Arm deutet seine im Krieg gemachten traumatischen Erfahrungen an und seine Angst nicht mehr malen zu können.

Ernst Ludwig Kirchner befürchtete den Einmarsch der Deutschen in die Schweiz. Am 15. Juni 1938 nahm er sich in Frauenkirch-Wildboden bei Davos/Schweiz durch zwei Herzschüsse das Leben. Nur ca. hundert Meter von dieser Stelle befindet sich auf dem Davoser Waldfriedhof sein Grab.

Einige Werke Ernst Ludwig Kirchners wurden postum in Kassel auf der documenta 1 (1955), der documenta II (1959) und auch der documenta III (1964) gezeigt und verehrt.

Nun zu unserer Bildergalerie

Aus der Vielzahl der Straßenbildern, die über Museen der ganzen Welt verteilt sind, stelle ich nun vier Motive und zwei Fotos vor:

„Fünf Frauen auf der Straße“ ist der Titel des ersten Gemäldes des Berliner Straßenbilder-Zykluses, das er 1913 malte. Sehr plakativ treten hier mondän bis dämonisch wirkenden fünf Kokotten auf, die nach vorbeifahrenden Autos und in die beleuchteten Schaufenster schauen. Sie benutzen die volle Breite des Bürgersteiges und flanierten betont desinteressiert - sie sind elegant, schlank, schwarz gekleidet und tragen extravagante Hüte.

„Rote Kokotte“. Eine Pastellzeichnung (Staatsgalerie Stuttgart) in der „die Farbe der Liebe“ mit der dazugehörenden Person ganz schrill präsentiert wird. Dieses Bild ist sehr expressiv und hat ein zugehöriges Ölbild (Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid), dass aber leider von Ernst Ludwig Kirchner selbst zu stark übermalt wurde.

„Potsdamer Platz, Berlin“. Von seinem Atelier war der Maler mit der Wannseebahn in einer Viertelstunde am Potsdamer Bahnhof, seinem Ausgangspunkt für die Streifzüge durchs Herz von Berlin: Potsdamer und Leipziger Platz, Friedrichstraße, Unter den Linden, Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor.

Das rote Ziegelmauerwerk des Bahnhofes leuchtet und zwei Kokotten „ladylike“ fordern schwarze Freier diskret heraus. Wie eine Lanze stößt das Dreieck des Gehweges zwischen der Straßengabelung gegen das Rund der Verkehrsinsel vor. Die Frauen befinden sich auf einer „Drehbühne“ der Nacht. Beide Formen besitzen eindeutig sexuelle Symbolkraft.

Eine interessante Nebensächlichkeit. Dass eine der Frauen im Bild „Potsdamer Platz“ einen Witwenschleier trägt, der ihr Gesicht schwarz vergittert, verrät die Vollendung des Gemäldes nach dem 1. August 1914 (Kriegsausbruch). Ab diesem Datum mußten Prostituierte auf Berlins Straßen sich wie Soldatenwitwen kleiden!

„Foto des Potsdamer Platzes, Berlin um 1912“.

„Frauen auf der Straße“. Das letzte Straßenbild des Straßenbilder-Zykluses ist ein Ölgemälde von 1915 und gehört heute dem Wuppertaler Von der Heydt-Museum. Das Motiv ist auch heute noch sehr modisch, plakativ und dynamisch.

„Ernst Ludwig Kirchner, Foto um 1914“.

„Causa Kirchner“.

Als „Causa Kirchner“ wurde die Rückgabe des Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner: „Berliner Straßenszene von 1913 aus dem Berliner Brücke-Museum an die Erbin des ehemaligen jüdischen Eigentümers und die daraus folgenden Reaktionen bezeichnet. Im August 2006 gab der damalige Berliner Kultursenator Thomas Flierl bekannt, dass das Land Berlin dem Herausgabeverlangen Anita Halpins, der in Großbritannien lebenden Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess, stattgeben und das Gemälde gemäß der Washingtoner Erklärung restituieren werde. Das Gemälde war seit 1980 im Brücke-Museum Berlin ausgestellt. Nach der Rückgabe wurde die „Straßenszene“ am 8. November 2006 im Auktionshaus Christie’s New York für fast 30 Millionen Euro versteigert, neuer Eigentümer wurde das Privatmuseum der Kunstsammler Ronald Lauder und Serge Sabarsky, die „Neue Galerie“ in New York.

Links:

(Ernst Ludwig Kirchner - Biografie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_...ig_Kirchner

(Künstlergruppe Brücke)
http://www.hatjecantz.de/bruecke-5039-0.html

(Expressionismus)
http://www.art-magazin.de/kunst/kuns...essionismus

(Casa Kirchner)
https://de.wikipedia.org/wiki/Causa_Kirchner

(Kirchners Museum Davos)
https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchn...useum_Davos

Map-Data:
KirchnerHaus, Ludwigstraße 19, 63739 Aschaffenburg

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3 Kommentare

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Ich habe mir noch zu DDR-Zeiten in Ost-Berlin Kirchner Bilder angeschaut, binsch extra für rübergemacht. Und bei uns hier gabs sogar in letzter Zeit einige schöne Ausstellungen zum Expressionismus, speziell zu denen, die in Berlin am wirken waren.
  • 16.11.2016, 18:49 Uhr
  • 0
Volker Barth
... das freut mich und ich habe den festen Eindruck, eine richtige Kirchner-Bildauswahl getroffen zu haben ...
  • 16.11.2016, 19:04 Uhr
  • 0
Ich habe schon viele Kirchnerbilder gesehen und diese sind ja absolut typisch für ihn. Ich denke mal, ich kann das behaupten, schließlich habe ich ein abgeschlossenes Kunststudium hinter mir.
  • 16.11.2016, 19:29 Uhr
  • 1
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