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Eisenwein - oder - Das Leben des Franz Fink (1)

Eisenwein - oder - Das Leben des Franz Fink (1)

29.11.2016, 23:58 Uhr
Beitrag von wize.life-Nutzer
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Prolog

1

An der Litfaßsäule pinkelte ein Köter auf ein abgerissenes Wahlplakat. Auf dem zerfetzten Bild mit rauchenden Schloten in blühenden Gärten stand ein Spruch: ... aus Brutstätten des Krieges, Werkstätten des Friedens ...
Wer das versprach, war nicht zu erkennen. Das bunte Plakat stand im krassen Gegensatz zu den bröckelnden Fassaden der alten Häuser. Über den Hochöfen der steirischen Schwerindustrie schwebte wie immer eine Abgaswolke. Im letzten Licht des Tages legte sich ein Schleier über die Dächer der Stadt. Es war einer jener trüben Herbsttage, an denen man besser zu Hause bleibt. Böiger Wind hatte eingesetzt und trieb den Straßenstaub vor sich her. Im stinkenden Abwasserkanal der Papierfabrik floss eine braune Laugenbrühe träge dem Fluss entgegen, auf ihrer Oberfläche hatten sich weiße Schaumblasen gebildet, die sich im Fluss schnell wieder auflösten.

Maria Fink kniff zum Schutz vor den ersten Regentropfen die Augen zusammen und fasste ihr Kind fester an der Hand. Sie beschleunigte ihren Schritt und der Fünfjährige protestierte: „Mama, warum rennst du?“
„Weil es zu regnen beginnt und wir nicht nass werden wollen! Nur noch eine Straße, dann sind wir daheim.“
„Mama, schau, da sind glitzernde Perlen.“
Der Junge sträubte sich. Fasziniert schaute er auf die Regentropfen, die sich im Straßenstaub teilten und wie Perlen aussahen.
„Jetzt geh weiter, Franzi, sonst werde ich böse!“
Maria wollte, so kurz vor ihrer Wohnung, keine Pause mehr machen.
Sie mühte sich mit dem Bauchladen ab, den sie zugeklappt an einem Gurt quer über der Brust trug. Der schmale Lederriemen schmerzte bei jeder Erschütterung. Hinzu kam der Rucksack, der ihr schwer in den Rücken drückte. Er war vollgepackt, also war es ein guter Arbeitstag gewesen.
Maria Fink und ihr Sohn Franz waren Hausierer. Vor dem Gesetz waren sie Bettler, denn einen Gewerbeschein, der ihnen Tür-zu-Tür Geschäfte erlaubt hätte, hatten sie nicht. In den Fünfziger Jahren trieben sich viele, vom Krieg entwurzelte, Gestalten herum. Es gab Übergriffe auf Frauen.
Seit Maria einmal von einem, anfangs netten, dann aber zudringlichen Mann, beinahe in eine Wohnung gezogen wurde, hatte sie Angst allein auf Tour zu gehen. Sie fühlte sich in Begleitung ihres Sohnes sicherer und war der Meinung, dass Mütter mit Kindern in Ruhe gelassen werden. Außerdem war Franz eine nicht zu unterschätzende Verkaufshilfe. Jedesmal wenn Maria ihren Bauchladen packte und Franz fragte, ob er mitkommen wolle, war seine Begeisterung groß. Seine einzige Bedingung war, dass er bei allen Türen die Klingelknöpfe drücken dürfe.Sein Blick wirkte manchmal traurig und veranlasste viele Leute zum Kauf. Sie sagten oft, dass sie gar nichts bräuchten und gaben Geld oder Geschenke ohne Gegenleistung. Maria Fink drückte Franz dann fest die Hand, das war für ihn das Zeichen „Danke“ zu sagen. Zum Spender gewandt sagte sie:
„Sie beschämen uns, wir wollen keine Bettler sein. Trotzdem: Herzlichen Dank!“
Die Geschenke, Kleidung, Kohlköpfe und manchmal auch ein Stück Geselchtes steckte Maria in den Rucksack. Von einem farbigen Besatzungsoffizier hatte sie eine Flasche Rum spendiert bekommen. Ein Glas Wein, zu dem er sie in die Wohnung einlud, hatte sie aus Angst abgelehnt. Auch Franz hatte Angst, doch nicht vor der Freundlichkeit des Soldaten, sondern weil er noch nie einen Schwarzen gesehen hatte.
Dass sie manchmal mit: „Verschwindet, ihr Gesindel!“ weggejagt wurden, ärgerte Maria. Wenn Franz fragte, was diese Worte bedeuten, antwortete sie ausweichend: „Böse Leute gibt es überall, mach dir keine Gedanken!“

Das Warensortiment war bescheiden: Salz, Pfeffer, Zimt wurden zum Groschenpreis verkauft. Aus dem Bauchladen bot sie Zwirnspulen, Patentknöpfe, Schuhbänder und je nach Jahreszeit auch Weihrauch oder Eierfarben an. Für den Wareneinkauf beim Großhändler war Ferdinand Fink, Marias Ehemann und Vater von Franz, zuständig.

Ferdinand Fink, von allen nur Ferdl genannt, trank.
Der ehemalige Unternehmer hatte nach einem Konkurs eine achtmonatige Gefängnisstrafe abgebüßt und war arbeitslos. Er war wegen betrügerischer Krida und Steuerhinterziehung verhaftet und eingesperrt worden. Alles was sie je besessen hatten war versteigert worden. Die Familie stand vor dem Nichts und fiel symbolisch in ein tiefes Loch. Das war auch der Grund, warum Maria und Franz zu fliegenden Händlern geworden waren. Vater Fink verdiente nicht nur kein Geld, er hatte auch einen Schuldenberg angehäuft.
Schlimmer als das geschäftliche Scheitern, empfand Maria den sozialen Abstieg. Der Alkohol und die Knastbrüder, die Ferdinand Fink als seine Freunde bezeichnete, ließen ihn vom gefeierten Unternehmer zum schmierigen Winkelschreiber abstürzen. Seit diesem Abstieg hausten die Finks in einem feuchten, dunklen Raum, in dem eine spanische Wand provisorisch Wohn- und Schlafbereich trennte. Ein winziges Fenster ging zum Hof. Die Einrichtung war bunt zusammengewürfelt. Ein Kohleherd mit Wasserschiff diente zum Kochen und war zugleich die einzige Wärmequelle. Mittelpunkt des Raumes war ein klobiger Tisch und drei verschiedene Stühle. Als Waschgelegenheit diente ein Gestell, in dem ein Lavoir und ein Wasserkrug aus emailliertem Blech hing, darunter befand sich der Eimer für das Abwasser. Im oberen Aufsatz der Kredenz stand das auffälligste Stück der Wohnung – eine schwarze Schreibmaschine mit goldener Aufschrift: Remington.
Die alte Remington war sozusagen der letzte Zeuge einer besseren Zeit. Maria hatte sie seinerzeit aus der Konkursmasse gerettet. Bis vor einem Jahr stand sie noch im Büro der Villa Hammerherr, dem ehemaligen Sitz von Fink & Sohn – Glaswaren en gros – en detail.
Manchmal hörte Franz seine Mutter seufzen, wenn sie ihm einen Bogen Papier in die Remington einspannte und ihn darauf spielen ließ.
- - - -
2
Jim Beda war Bettler. Er selbst sah das natürlich ganz anders. Jim Beda hieß mit bürgerlichem Namen Peter Tschimm. Jahrelang hatte er versucht, sich der Rekrutierung durch die Wehrmacht zu entziehen. Es half alles nichts, in den letzten Kriegstagen war er doch noch einberufen worden. Peter Tschimm hatte seinen rechten Arm verloren – und Deutschland den Krieg. Er wollte nie den Arm zum Hitlergruß heben – jetzt hatte sich die Sache von selbst erledigt, sagte er oft lachend.
Als Kriegsopfer bekam er einen provisorischen Gewerbeschein zum Handel mit Kleinwaren. Er saß meistens neben der alten Kirche vor der Bombenruine eines Wohnhauses auf dem Bürgersteig und hielt den Passanten ein Paket mit Ansichtskarten entgegen. Viele glaubten, dass Jim Beda ein ehemaliger Hausbewohner sei und warfen ihm einen Schilling in den Hut, ohne die Karte zu nehmen. Er war dankbar und freundlich, besonders zu denen, die ihn für einen arbeitsscheuen Hallodri hielten.
Mit Ferdinand Fink war er seit Jahren befreundet. Lange vor dem Krieg, in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit, waren sie gemeinsam als Walzbrüder unterwegs gewesen. Fink hatte das Tausendjährige Reich unbeschädigt an der Heimatfront überstanden und nach dem Krieg, nicht nur saubere, Geschäfte mit den Alliierten gemacht. Sein Aufstieg zum Glas-Baron war so rasant wie zerbrechlich. Fünf Unternehmerjahre endeten in einem Fiasko. Ferdinand Fink sprach nicht darüber, er betrank sich.
Jim Beda hingegen war den legalen Weg gegangen. Er erhielt vor Kurzem die Konzession zur Führung einer Tabak-Trafik. Jetzt war der Weg zum Geschäftsmann plötzlich weit offen geworden. Seinen Freund Ferdl wollte er als kaufmännischen Berater engagieren.

Während Maria und ihr Sohn auf Tour waren, hatten sich Vater Fink und Jim Beda in der Fink´schen Wohnung verabredet und über alte Zeiten geplaudert. So verschieden die beiden Männer auch waren, redeten sie doch über eine gemeinsame Zukunft: Auf der einen Seite Ferdinand Fink, ein stets auf sein Äußeres bedachter, etwas gedrungener Kaufmann - auf der anderen Seite Jim Beda, ein großgewachsener Einarmiger, der für Krawattenträger, wie er sie nannte, nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Jim war überzeugt, dass er seinem Freund das Geschäft seines Lebens angeboten hatte, doch dieser lehnte ab. Die Stimmung war aufgeheizt, als Maria und ihr Sohn den Raum betraten.

„Servus Mizzi, gut dass du da bist!“ sagte Jim Beda.
„Servus Beda, was ist denn hier los? Muss denn immer gesoffen werden?“
Sie stellte den Bauchladen ab, bückte sich und bat ihren Sohn Franz:
„Geh, Franzi-Burli, hilfst du mir, den Rucksack abzunehmen?“
Franz versuchte die Tragegurte von ihren Schultern zu streifen. Vergebens, das Ding war zu schwer. Hilfesuchend schaute er zu seinem Vater, doch der verzog keine Miene und machte keine Anstalten, den beiden zu helfen. Das Kind richtete den Blick auf Jim Beda. Man sah ihm an, dass er dem Einarmigen nicht traute.
„Na, Sprössling", sagte Jim Beda und half Maria aus den Riemen. Es war als Scherz gemeint, doch Franz´ Blick blieb skeptisch.
„Was ist ein Sprössling? Und warum nennst du meine Mama Mizzi? Das darf nur mein Vater!“ sagte Franz zu Jim Beda.
Die beiden Männer lachten. Antwort bekam Franz keine; er wandte sich beleidigt an seine Mutter und flüsterte ihr zu: „Ich mag ihn nicht.“
„Ist schon gut, Franzi, die beiden sind besoffen.“ Maria schob die spanische Wand zur Seite und stieß das Fenster weit auf, um zu lüften.
„Hier stinkt es wie in einem Wirtshaus. Das ist ja nicht zum Aushalten“, schimpfte Maria.
„Reg dich nicht auf, zeig uns deine Ausbeute!“, sagte Ferdl und griff in die Seitentasche des Rucksacks.
„Braves Mädchen“, sagte er, als er den Rum des britischen Offiziers aus der Tasche zog.
„Du hast schon genug gesoffen, gib die Flasche her!“ Maria stemmte die Hände in die Hüften.
„Nix da, bring zwei Gläser, der Rum muss getestet werden!“, herrschte Ferdl Maria an. An Jim Beda gewandt sagte er:
„Die Weiber werden auch immer frecher.“
Jim Beda sah das anders:
„Sei froh, dass du so eine Frau hast. Meine Flora würde mir was pfeifen.“
„Jaja, du mit deinem Pupperl, die ist wohl zu schön zum Arbeiten, oder?“
„Ferdl, ich warne dich, lass meine Frau aus dem Spiel!“
„Ist schon gut, Beda. Sei nicht so zimperlich.“

Maria nutzte das Streitgespräch der Männer, um die Hälfte ihrer Tageseinkünfte in einem Schuh hinter dem Vorhang zu verstecken. Dann begann sie mit den Vorbereitungen fürs Abendessen. Durch das Lüften war es kalt geworden, im Sparherd brannte kein Feuer und es war weder Holz noch Kohle in der Vorratslade. Maria wandte sich an Franz, der in seiner Lieblingsecke hinter der Kohlenkiste mit einem rostigen Blechkreisel spielte.
„Franzi, magst mit mir Holz holen gehen? Dein Herr Vater war nicht fähig dazu.“ Den Blick, den sie seinem Vater zuwarf, konnte Franz nicht sehen.
„In den Wald?“, fragte Franz erschrocken.
„Nein, aus dem Keller. In den Wald gehen wir morgen, mit dem Leiterwagen. Freust du dich?“
„Oh ja. Ich will Zapfen klauben!“
Jim Beda hatte bemerkt, wie Maria ihren Mann von oben herab musterte. Er wechselte das Thema:
„Also Mizzi, dein Alter ist ein sturer Bock. Was hältst du von meinem Vorschlag?“
„Was für ein Vorschlag?“, fragte Maria, obwohl sie ahnte, worum es ging. Jims Angebot mit der Tabak-Trafik war nicht neu. Doch sie kannte die Arroganz ihres Mannes, der sich weigerte, mit einem Bettler zu arbeiten. Noch dazu, wenn dieser Mann sein Chef werden sollte. Das war wohl der Grund seiner Abneigung, dachte sie. Dabei wäre ihr Mann ein guter Kompagnon, aber es fehlte das Geld. Seinen Gewerbeschein hatte man ihm nach dem Konkurs auf unbestimmte Zeit aberkannt.
Jim sagte: „Ich habe jetzt zusätzlich zur Konzession für das Betreiben einer Tabak-Trafik auch noch die Genehmigung bekommen, einen Kiosk mit Buffet zu führen.“
„Ja und, was hat das mit uns zu tun?“, fragte Maria.
„Ich habe Ferdl den Vorschlag gemacht mitzuarbeiten, anstatt sein Dasein mit Winkelschreibereien für seine Saufbrüder zu fristen!“
„Du hast ja keine Ahnung“, erboste sich Ferdl, „ich habe unzähligen Gestrauchelten geholfen, ihre Briefe und Eingaben zu verfassen!“
„Ja, ich weiß. Und bezahlt haben sie dich mit ein paar Viertel Wein oder einem winzigen Anteil an ihren Geschäften. Komm Ferdl, vergiss die Brüder, das bringt doch nichts!“
„Und was soll so ein Kiosk bringen?“
„Auf jeden Fall mehr als mein Postkarten-Verkauf und euer Hausieren zusammen. Darauf kannst du Gift nehmen!“
Sie füllten sie die Rumgläser ein weiteres Mal und nahmen erst einmal einen kräftigen Schluck.
„Um ein paar Flaschen Bier, Zigaretten und lausige Zeitungen zu verkaufen, brauchst du doch keinen Kaufmann wie mich.“
„Mensch Ferdl, sei nicht blöd! Du weißt so gut wie ich, dass das eine Goldgrube werden könnte, wenn wir es richtig angehen.“
Maria sah Ferdl von der Seite an. Sie glaubte zu wissen, was in seinem Kopf vorging. Sein Gesichtsausdruck wirkte nur nach Außen hin stumpfsinnig, war es aber nicht. Wahrscheinlich suchte er seinen Vorteil. Gut möglich, dachte sie, dass er in seinem Kopf Bilder produzierte, die von künftigen Trinkgelagen unter seiner Regie handelten. Ohne Geldmangel, denn künftig würde er ja höchstpersönlich hinter der Theke stehen.
„Du, Mizzi, was meinst denn du dazu?“ fragte Ferdl.
„Wenn du mich so fragst: Meine Zustimmung hast du. Ich wäre froh, wenn dieses Hausieren ein Ende hätte. Es kostet mich jeden Tag Überwindung.“
„Na, was sag ich denn, die Mizzi hat´s begriffen.“ Jim Beda hielt das Rumglas in die Höhe: „Prost! Auf unsere Zusammenarbeit.“
„Wie soll das gehen, und wo?“, fragt Maria.
„Der Standort wird die Baracke an der Obuskehre vor der Werkseinfahrt sein. Ich und Flora haben sie billig gekauft. Wir sperren vor der Frühschicht auf und erst nach der Spätschicht zu. Im Stahlwerk arbeiten tausende Menschen. Die Arbeiter an den Hochöfen und in den Walzwerken haben immer Durst.“
„Und du glaubst, das funktioniert?“, fragte Maria.
„Natürlich haut das hin! Jetzt hört mir einmal gut zu: Ferdl organisiert den kaufmännischen Teil, du Mizzi kümmerst dich um die Küche, meine Flora um die Gäste und ich verkaufe Zigaretten und Zeitungen. Das mach ich Krüppel mit links, so wahr ich Peter Tschimm heiße!“
„Und was tun wir mit unserem Buben?“ fragten Ferdl und Mizzi fast gleichzeitig.
„Den nehmt ihr mit, wir haben genug Platz. Aus dem machen wir den großen Franz Fink. An mir soll´s nicht liegen.“
Jim Beda lächelte, als er den kleinen Franz samt seinem Spielzeug aufnahm, an seine bärtige Wange drückte und ihm zuflüsterte:
„Gell Franzi, wir schaffen das!“

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