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Recep Tayip Erdogan: Sein Weg, sein Ziel

Recep Tayip Erdogan: Sein Weg, sein Ziel

08.04.2017, 17:40 Uhr
Beitrag von wize.life-Nutzer

Die Nachrichten über die Türkei reißen nicht ab. Die Türkei rast auf eine Diktatur zu. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts rettet Recep Tayip Erdogan die Türkei vor dem Beinahe-Staatsbankrott. Ein wirtschaftlicher Aufschwung und soziale Stabilität zieht in das Land und Erdogan räumt sogar religiösen und ethnischen Minderheiten mehr Rechte zu. Deshalb setzte man in Erdogan große Hoffnungen, er werde längst fällige Reformen in einer ideologisch erstarrten Republik einleiten. Doch all diese Hoffnungen sind dahin. In den letzten Jahren zeigt Erdogan immer mehr sein wahres Gesicht. Für mich besteht kein Zweifel. Erdogan wird, wenn er die Macht behält, wird er die Türkei in einen diktatorischen Staat führen. Seit Jahren tritt er die Pressefreiheit mit Füßen tritt. Der erfolglose Putsch am 15. Juli 2016, angeblich ausgeführt von Anhängern der Gülenbewegung, spielt in Erdogans Hände. Seit dem Putschversuch werden regierungskritische Mitbürger als Türkeifeinde und Terroristen in Gefängnisse eingesperrt. Erdogan duldet keine Kritik an seiner Staatsführung. In Ankara baut er sich einen Prunkpalast, der an die monströsen Paläste von Ceaușescu und Saddam Hussein erinnert. Ceaușescu allerdings, konnte sein »Haus des Volkes« nicht mehr vollenden. Erdogans Palast verschlingt 490 Millionen Euro. Der Ort des sog. Weißen Palastes ( Ak Saray) ist nicht zufällig gewählt. Er befindet sich in der vom Vater der Türken gestifteten grüne Lunge »Waldfarm Atatürks«, einem Naturschutzgebiet im Westen von Ankara. Erdogan widersetzt sich gegen jeden Gerichtsbeschluss und Baustopp. Er versteht sich als der große Staatsmann nach Atatürk. Ihm hat niemand etwas vorzuschreiben.

Wie konnte das alles passieren? Um uns der Sache zu nähern, müssen wir mit den Regierungsjahren von Mustafa Kemal Pascha beginnen.

Er wird noch heute liebevoll Atatürk, der Vater der Türken, genannt. In jedem Dorf steht ein Denkmal, obwohl es zu seinen Lebzeiten schon Kritik an seinen Reformen gab. Nach dem Fall des osmanischen Reiches regiert er von 1923 - 1938. Atatürk setzt die seit dem Beginn des Osmanischen Reiches festgelegte soziale - religiöse Reform ab, d.h. der Islam ist nicht mehr Staatsreligion, die Scharia setzt er ab. Atatürk will in der Türkei eine Gesellschaftsform nach europäischem Vorbild schaffen. Er sieht sich dazu veranlasst, weil ein Fortschritt der Nation nur gewährleistet ist, wenn die Nation auch an einer modernen Zivilisation teil hat. Atatürks Vorbild ist die westliche europäische Zivilisation. Den Islam hält er für rückständig und findet auch drastische Worte dafür:

»Der Politiker, der zur Regierung die Hilfe der Religion braucht, ist nichts als ein Schwachkopf.« (zit. in Schweizer, pos. 786).

Bei diesem Zitat muss berücksichtigt werden, in anderen Zitaten Atatürks ist ein größererer Respekt gegenüber dem Islam zu erkennen:

»Wir dürfen nicht unseren heiligen und hohen Glauben als ein Werkzeug der Politik missbrauchen.« (zit. in Schweizer, pos. 817).

1924 werden sämtliche Koranschulen geschlossen, 1925 wird die islamische Zeitrechnung abgeschafft. Der Koran wird nicht mehr auf arabisch gedruckt und es dauert viele Jahre, bis einen Ausgabe auf türkisch in lateinischen Buchstaben erscheint. Das heißt, eine ganze Jugend wird um die Lektüre des Korans betrogen. Atatürks Vorbild ist der Laizismus in Frankreich. Innerhalb der letzten 150 Jahre des Osmanischen Reiches waren schon Ansätze mit dem Bruch alter Traditionen vorhanden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts residierten die Sultane im Dolmabahçe Palast, architektonisch hat dieser Bau Anleihen vom Schloss Versailles und Schloss Herrenchiemsee. Auch der Thronsaal mit den Wandmalereien, die riesigen Kronleuchter zeugen davon. Seit dem die Belagerung Wiens gescheitert war, ist das Osmanische Reich im Niedergang begriffen und die Sultane orientieren sich mehr und mehr nach westlichen Vorbildern. Atatürk macht da nur einen radikalen Schnitt. Im Jahre 1925 und 1930 gibt es blutige Aufstände, die sich gegen Atatürks sog. »gottlose Reformen« richten. Beide Aufstände gehen von Kurden aus und werden vom Militär blutig niedergeschlagen. So rücken die Kurden und andere religiöse Minderheiten als Feinde der Anhänger Atatürks in den Focus, ebenso die Islamisten, die Feinde des Laizismus sind. Bemerkenswert ist, dass in dieser Zeit, 1928, unter Hassan al Banna in Ägypten sich die Muslimbruderschaft formiert, eine der Brutstätten des modernen fundamentalistischen Islamismus.

Atatürks Nachfolger Ismet Inonü, regiert bis 1950. Er schlägt den Weg zum Mehrparteiensystem ein (1945). Die »Demokrat Partisi«, gegründet 1946, ist in Türkei die erste Oppositionspartei. Immer mehr Parteien entstehen, aber keine Oppositionspartei wagt, den Laizismus in Frage zu stellen. Die Republikanische Volkspartei, die diesen Staat vertritt, sieht sich fest im Sattel. Der Grund hier für liegt darin, dass seit der Schaffung des Mehrparteisystems das Militär verstärkt in die Rolle als »Hüter der Verfassung« schlüpft. Die Führung des »Nationalen Rates« haben Generäle inne. Das Militär soll das Erbe Atatürks beschützen. Der jahrzehntelange Konflikt zwischen Militär und Politik war gelegt. Nach Atatürks Tod zeigte sich, eine strenge laizistische Gesellschaftsordnung, anlehnend an den Vater der Türken als Kemalismus bezeichnet, kann nicht konsequent aufrechterhalten werden, da ein großer Anteil der Bevölkerung im traditionellen Islam wurzelt. Die Spannungen zwischen laizistisch - und islamischen Parteien bestimmt noch heute in der Türkei das politische Leben. So fährt die Republikanische Volkspartei bei den Wahlen im Jahre 1950 eine schmerzhafte Niederlage ein und Adnan Menderes von der »Demokratischen Partei« wird Ministerpräsident. Im Laufe seiner Regierung wird der Kemalismus schrittweise aus den Angeln gehoben. Es ertönt wieder fünfmal am Tag der Muezzin-Ruf in arabischer Sprache, Koranlesungen und Predigten werden über den Rundfunk verbreitet, religiös geprägte Schulen werden neben den laizistischen Einrichtungen wieder zugelassen. Kurz und gut: Die Regierung Menderes stieß ein Tor zur Re-Islamisierung auf. Zum Militärputsch kommt es aber erst 10 Jahre später. Menderes' Stern gesunken war und mit dem Oberbefehlshaber des Heeres, General Kemal Gürsel, über weitere politische Reformen zerstritten. Der entlassene General sorgt für einen Putsch und stürzt Menderes.

Jahrzehnte später, am 28. Juni 1996 kommt mit Necmettin Erbakan zum ersten Mal ein Islamist in den Sessel des Ministerpräsidenten Ministerpräsident. Er fordert die Aufhebung der Trennung religiöser und politischer Institutionen, will die Scharia wieder einführen und geistliche Rechtsgelehrte sollen wie im Osmanischen Reich üblich alle Entscheidungen der Politiker kontrollieren. 1997 genügt eine Drohung des Militärs und er verschwindet freiwillig von der politischen Bühne.

Turgut Özäl wird im November 1989 Ministerpräsident und blieb es bis zum am 17. April 1993. An diesem Tag erliegt er einem Giftmordanschlag. Özal muss in diesem Rahmen erwähnt werden, weil er ist der erste Ministerpräsident ist, der darauf hinarbeitet, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Um die Chancen in dieser Hinsicht zu erhöhen, will er das Massaker an die Armenier im Jahre 1915 als Genozid deklarieren und sich offiziell dafür entschuldigen. Von türkischen Nationalisten und auch von weiten Kreisen der Bevölkerung erhielt er für dieses Vorhaben Gegenwind.

Schlagen wir nun einen Bogen zur Politik Erdogans, so hat er es verspielt, dass die Türkei in die Europäische Union aufgenommen wird. Wir erinnern uns auch an den Gerichtsprozess, der gegen Orhan Pamuk angestrengt wurde. 2005 wird der Schriftsteller wegen der »Herabsetzung der türkischen Identität und des Türkentums« angeklagt, nur weil er im Februar 2005 in einem Interview mit des »Züricher Tagesanzeiger« sich über den Massenmord an den Armeniern wie folgt äußert: »Man hat hier dreißigtausend Kurden umgebracht. Und eine Million Armenier. Und niemand traut sich, das zu erwähnen.«

Erdogans Erfahrungen mit den Parteiverbotsverfahren zu Erbakans Zeiten, veranlassen ihn zu der Zeit der Gründung der AKP, zu sagen, die Religion sei nur Privatsache und er meidet ganz bewusst islamische Themen und bekennt sich zur »säkularen und laizistischen Demokratie« (Akyol, Seite 114). Ich halte das für schlichtweg gelogen. Heute wissen wir, je mächtiger er wird, desto mehr zeigt er seine diktatorische Seite. Erdogan kommt im geschniegeltem Anzug und sagt: »Ich bin nur ein gläubiger Moslem - und ein konservativer Demokrat.« Doch damals ist sein Auftritt von 1997 in der südanatolischen Stadt Siirt nicht vergessen. Er zitiert einige Verse des nationalistischen Dichters Ziya Göklap (1875-1924):

»Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« (vgl. Akyol, Seite 106)

Daraufhin wird Erdogan am 21. April 1998 vom Staatssicherheitsgericht von Diyarbakır wegen »Aufstachelung zur Feindschaft« nach Paragraf 312 des Strafgesetzbuches zu zehn Monaten Haft verurteilt und kassiert ein lebenslanges Politikverbot. Warum er dann doch Ministerpräsident wird, ist eine andere Geschichte. Darauf komme ich noch zu sprechen. Machen wir vorerst eine kleine Tour durch seine Biografie.

Im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa, direkt am Goldenen Horn gelegen, unweit der İstiklâl Caddesi, der längsten Fußgängerzone Europas, erblickt Recep Tayip Erdogan am 26. Februar das Licht der Welt. Die Lebensverhältnisse in Kasımpaşa sind ärmlich, die Menschen geprägt von islamischer Frömmigkeit. In dieser Atmosphäre wächst er auf. Der Müll stapelt sich in den ungepflasterten Straßen und Erdogan wird als Kind oft mitbekommen haben, wie die Strom-und Wasserversorgung ausfiel. Die räumliche Enge der elterlichen Wohnung trieb ihn auf die Straße. Wenn Erdogan von seiner Kindheit in dem Stadtviertel spricht, verklärt er es zur Idylle, was es in Wirklichkeit bestimmt nicht war. Gewalt, Schmutz , Elend, Verwaltungschaos, illegale Bebauungen, problemhafte Sozialstruktur. Erdogan blendet das alles aus. 1973 wechselt er von der Grundschule in Kasımpaşa zur Iman-Hatip-Schule, das ist ein religiös ausgerichtetes Gymnasium mit Ausbildungsschwerpunkt auf den Koranunterricht. Den Schülern wird der Islam als die höchste moralische Instanz vermittelt. Überzeugte Laizisten sind derartige Schulen ein Grauen, Lehrstätten der Entwestlichung, aber Erdogan schwärmt von diesem Gymnasium. Von dort bekommt er, eine Orientierung für sein ganzes Leben eingehaucht (Akyyol, Seite 66). Als Schüler schon treibt es Erdogan in die Politik. Er ist begeistert von den Parolen des Islamisten Necmettin Erbakans, der von der »Rettung durch den Islam« und von einem »Gottestaat« spricht. Erbakan wird Erdogans islamistischer Ziehvater. Die Jugendorganisation von Erbakans »Partei der nationalen Ordnung« (Milli Nizam Partisi) wird Erdogans erste politische Heimat. Zu dieser Zeit vertritt er islamistische Interessen. Er fordert die Abschaffung der lateinischen Schreibweise des Türkischen und wenn es nach ihm ginge, würde er gerne die laizistischen Leitlinien aus der Verfassung streichen. 1976 wird er Vorsitzender des Jugendverbandes der »Nationalen Heilspartei« im Istanbuler Stadtviertel Beyoğlu, zu der auch Kasımpaşa. Erbakans zweite gegründete Partei. Seit 1984 ist Erdogan stellvertretender Vorsitzender der islamistischen »Wohlfahrtspartei« (Refah Partisi). Sie wird durch ein Urteil des Verfassungsgerichtes am 16. Januar 1998 verboten. Die islamistischen Parteien der Türkei gehören der Milli-Göruş-Bewegung, die ja auch einen Fuß in Deutschland hat, nicht als Partei, aber als einer der Islamverbände. Zumindest die politische Wiege Erdogans ist der Islamismus. Es stellt sich die Frage, ob Erdogan heute ein Islamist ist. Ich denke nicht, denn sonst hätte er das Kalifat ausgerufen und die Scharia eingeführt. Allerdings ist Erdogan noch nicht am Ende seines Weges angekommen.

In den Jahren 1994 -1998 bekleidet er das Amt des Oberbürgermeisters in Istanbul. Er pflanzt 600 000 Bäume, stellt die Heizsysteme von Braunkohle auf Gas um, kümmert sich um die Verbesserung der Müllabfuhr und endlich funktioniert die Wasserversorgung. Er beginnt mit dem Bau der U-Bahn. Trotz dieser Wohltaten verstört er immer wieder mit islam-konservativen Vorstellungen und nennt sich sogar »Imam von Istanbul« (Akyol, Seite 102). Keine leichtbekleideten Frauen auf Plakatwänden, das Ballet sei pornografisch und weitere Befremdungen erklären seine Geistesverfassung. Erdogan muss sich damals wirklich als ein Imam gefühlt haben, eine Frucht der Erziehung in der Iman-Hatip-Schule.

Im Jahre 2001 wird die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, bzw, Aufschwung, Adalet ve Kalkınma Partisi) von Erdogan, Abdullah Gül und weiteren Politikern gegründet. Diese Partei lehnt es ab, sich als muslimisch-demokratisch bezeichnen zu lassen, obwohl sie in der Wahrnehmung sich als islamisch konservativ hervortut. Als die AKP 2002 ihren ersten politischen Sieg feiert, wird Erdogan aufgrund seiner Vergangenheit misstrauisch beäugt, doch vor allem die Europäer freunden sich schnell mit ihm an. Sie meinen sogar, Erdogan stehe zur demokratischen Werten und Zuverlässigkeit. Sogar unsere ehemaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder preist im Jahre 2004 Erdogan noch als »großen Reformpolitiker« (Akyol, Seite 140). Aus seinen Erfahrungen aus dem Gefängnis hat Erdogan gelernt und meidet islamische Forderungen. Anstatt zu provozieren formt er Lippenbekenntnisse wie »Die Demokratie ist die Lösung« (Akyol, 142). Und so will er die Türkei auch in die Europäische Union führen. Je länger er regiert, desto mehr verschwindet aber sein demokratisches Verständnis. Das einzige, was ihn wirklich interessiert, ist, seine Macht auszubauen. Da Erdogan aufgrund des Gerichtsurteils von 1998 keine politischen Ämter bekleiden darf, wird sein Stellvertreter Abdullah Gül Ministerpräsident, der bemerkenswerterweise von der islamistischen Wohlfahrtspartei kommt und einer der Gründungsmitglieder der AKP ist. Aufgrund einer Verfassungsänderung gelingt es Erdogan dann doch, zum Ministerpräsidenten aufzusteigen. Aber selbst das genügt ihm nicht. 2014 wählte man ihn zum Staatspräsidenten. Er ist von dem Gedanken besessen, das Präsidialsystem einzuführen (Wahl am 16. April 2017), in der dem Staatspräsidenten, wenn es dazu kommt, noch mehr Macht zugesprochen wird. Die Gewaltenteilung wäre sozusagen ausgehebelt. Alle Entscheidungen gingen über seinen Tisch. Vor allem will er im Jahre 2023 noch immer Staatspräsident sein. Dann feiert die Türkei nämlich das 100- jährige Jubiläum der Türkischen Republik und Erdogan wird dann als der mächtigste türkische Herrscher da stehen, mächtiger als es Mustafa Kemal Atatürk jemals war. Das wäre sein größter Triumph. Die Türkei fährt im rasanten Tempo auf eine Diktatur zu und hat es schon längst verspielt, Mitglied in der Europäischen Union zu werden.

Doch gehen wir noch einmal ein paar Jahre zurück. 2007 bahnt sich eine Krise an. Erdogan hegt schon damals den Wunsch, Staatspräsident zu werden, doch ist es noch zu früh. Einen verurteilten Islamisten werde das Militär nicht durchgehen lassen. Darum schickt er wieder seinen Freund und seine Marionette Abdullah Gül vor, der als ehemaliger Außenminister hohes Ansehen genoss. Doch werden Gegenstimmen laut. Erstens war Gül Mitglied in einer islamistischen Partei und zweitens trägt seine Frau in aller Öffentlichkeit ein Kopftuch, was für die Kemalisten ein Unding ist stellt das Tragen eines Kopftuchs doch ein Bekenntnis gegen den Laizismus dar. Der Vize-Armeechef General Ergin Saygun mahnt, der nächste Präsident solle an die Hauptprinzipien der türkischen Republik gebunden sein (Akyol, Seite 151) und auch die Medien wettern gegen Gül, sodass er und damit auch Erdogan, am 27. April 2007 im ersten Wahlgang scheitert. Doch Erdogan gibt nicht auf. Er kümmert sich um Reformen und sichert der christlichen Minderheit die freie Religionsausübung zu. Sogar armenische Christen rufen daraufhin zur Wiederwahl der AKP auf. Natürlich hat Erdogan einen Hintergedanken. Wenn die Christen ihre Religion frei ausüben, werde er den Weg für das Kopftuch ebnen. Am 24. Januar 2008 wird das Kopftuchverbot an Hochschulen tatsächlich gekappt. Am 27. August 2016 geht es durch die Medien, Polizistinnen dürfen das Kopftuch zur Uniform tragen. Die Opposition und das Militär ist zu schwach, um der AKP etwas entgegenzusetzen. Am 22. Juli 2007 fährt die AKP noch ein besseres Ergebnis ein als 2002. Die damalige Vorsitzende der Grünen Claudia Roth bezeichnet den Wahlsieg als »klaren Sieg der Vernunft und der Demokratie...« (Akyol, Seite 159). Sogar die radikalislamische Palästinenserbewegung Hamas sendet ihre Glückwünsche. In Erdoğan sieht sie für das Projekt der Islamisierung einen Gleichgesinnten. Erdogan ist 2007 an einem Punkt gelandet, um sich noch als demokratischer Reformer zu bewähren, doch leider schlägt er eine andere Richtung ein. Sein Reformeifer stagniert Er schränkt demokratische Freiheiten ein. Sein ehemaliger langjähriger politischer Weggefährte Abdüllatif Şener, Mitbegründer der AKP, bekennt: »Er bestimmt alles, er ist der oberste Richter des Landes, und es sieht nicht so aus, als wenn sich daran was ändern wird.« (Akyol, Seite 164).

Unverblümt formuliert es die Journalistin Karen Krüger im Nachwort zu Can Dündars Buch »Lebenslang für die Wahrheit« :

»Seit dem missglückten Militärputsch vom 15. Juli 2016 und der darauf folgenden Verhängung des Ausnahmezustandes befindet sich der türkische Rechtsstaat im freien Fall. Denn der Autokrat Erdogan ist ein Getriebener der eigenen Machtinteressen. Noch in der Nacht des versuchten Staatsstreiches bezeichnete er diesen als »ein Geschenk Gottes«, das ihm nun ermögliche, mit seinen Gegnern aufzuräumen.«

Seitdem ist er mit nichts anderem beschäftigt.


Meine Quellen:

Gerhard Schweizer: Türkei verstehen - Von Atatürk bis Erdogan, Klett Cotta, 2016, e-book
Çiğdem Akyol: Erdogan - Die Biografie, Herder, 2016
Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit, Hoffmann und Campe, 2016

PS: Leider kann man hier nicht "Erdogan" in türkischer Orthografie korrekt schreiben.

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38 Kommentare

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Perfekt recherchiert! Klasse Martin 👍
  • 11.04.2017, 11:48 Uhr
  • 0
Dankschön, Sabine.
  • 11.04.2017, 11:49 Uhr
  • 0
Ich habe deinen Artikel auf fb geteilt. Du hast sicher nichts dagegen?
  • 11.04.2017, 11:52 Uhr
  • 0
Passt scho. Kein Problem.
  • 11.04.2017, 11:52 Uhr
  • 1
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Gestern sagte ein junger Mann in die Kamera: Erdogan hat einen Charakter aus Gold! - Da machste nix!
Das glaubte D von 33 -44 so ähnlich auch!
Und wenn er ihn hätte, könnte der goldenen Charakter doch auch tatkräftig ohne extreme Machtbefugnisse in einer goldenen Demokratie seinen milden Schein verbreiten.
  • 10.04.2017, 11:21 Uhr
  • 1
Was nützt den ein goldiger Charakter,wenn er nur Matsch in der Birne hat.
  • 10.04.2017, 12:00 Uhr
  • 2
Wir sind keine Türken und sehen dem Ganzen erst mal nur zu. MACHEN können wir nicht viel bzw. nichts.
Blöd nur, dass viele E'Gegner so eingeschüchtert sein könnten, dass sie nicht wählen.
Bzw. wurde in dem Filmbeitrag ja auch deutllich, dass seine Anhänger zur Wahlurne mitschleppen, was laufen kann und wählen darf, selbst wenn sie nicht wissen, um was es überhaup geht. "Gelebte" Demokratie eben.
  • 10.04.2017, 12:04 Uhr
  • 2
Irgendwie kommen mir die Türken vor,als seien sie mit einem neuartigen Nervengas infiziert worden. Die sitzen da und stehen da bei jeder dieser Propagandaveranstaltungen von Erdogan, schwenken ihre Fähnchen und wirken verzückt und völlig entrückt. Erinnert ein wenig an Veranstaltungen in Nordkorea.Ausserdem hab ich den Verdacht ,ein großer Teil der Ja Stimmen sind sowas wie Protestwähler. Die sagen nur ja, weil ausserhalb der Türkei niemand den Sultan zustimmt.Ausser unseren lieben türkischstämmigen Landsleuten,die unsere Demokratie so schätzen und deshalb ihren Landsleuten eine Diktatur verpassen.
  • 10.04.2017, 12:33 Uhr
  • 1
Ich denke, wr könen nachvollziehen, wie man Massen mobilisiert:
https://www.google.de/search?q=hitle...752&bih=946
  • 10.04.2017, 12:46 Uhr
  • 1
Na ja, das ist ja nun sicher nicht zur Nachahmung empfohlen.Wobei es mittlerweile auch hierzulande dafür leider ein Klientel gibt. Da fällt mir z. B. ein Herr Höcke ein.
  • 10.04.2017, 12:49 Uhr
  • 0
Ich bin momentan sehr zuversichtlich, dass es sich heute um zu vernachlässigende Minderheiten handelt.
Und der Herr ist ja nun auch in den eigenen Reihen nicht mehr unumstritten.
  • 10.04.2017, 12:52 Uhr
  • 0
Das ist richtig,dennoch ist es mehr als traurig,dass solche Figuren überhaupt Anhänger finden hierzulande.
  • 10.04.2017, 13:10 Uhr
  • 0
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moment....ich nehme mir zwei wochen urlaub um das alles durchzulesen.....
  • 10.04.2017, 09:51 Uhr
  • 2
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Mit Spannung warte ich auf das Ergebnis des Referendums.
Im Falle einer Zustimmung wird in der Türkei danach die Demokratie beerdigt werden. Sollte die Mehrheit mit NEIN stimmen, wird der Machtmensch Erdogan sicherlich Mittel und Wege finden seinen Willen über Umwege doch noch durchzusetzen.
  • 10.04.2017, 09:08 Uhr
  • 2
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Nanu, is der Maddin plötzlich aufgewacht?
Naja, wurde auch langsam Zeit.
Ansonsten Glückwunsch und Zustimmung zu den neuen Erkenntnissen.
  • 09.04.2017, 20:59 Uhr
  • 3
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ich hätte da einen Begriff für diesen Erdogan: "krank" - iss aber nur meine Meinung......
  • 09.04.2017, 20:14 Uhr
  • 3
  • 10.04.2017, 11:05 Uhr
  • 0
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Erdogan ist ein Machtmensch und kann nicht aus seiner Haut.
  • 09.04.2017, 13:14 Uhr
  • 2
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Abriss der Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei.
https://www.orientdienst.de/muslime/.../osmanisch/

Alsbald im Namen von Premier Erdogan: Der neue Menschentypus: „Homo islamicus“ – strebsam, dynamisch, moralisch
und muslimisch existieren soll?

Will Premier Erdogan, das Geschichtsbuch umschreiben? Oder will er im Erdowahn, in die Geschichte eingehen?

Ist es, dass was Premier Erdogan in seinem Größenwahn in Allmächtigkeit zu lösen versuchte?

[ .. ]so wie die kleinkarierten Militärs zur Fortschrittsbremse wurden und so Atatürks eigentliches Ziel verfehlten, so droht auch Erdogan eine Perversion seines Werks: durch radikalere islamistische Kräfte, die sich nun freier entfalten können und weniger „modern“ denken.[ .. ]
  • 09.04.2017, 10:31 Uhr
  • 3
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Vielleicht hätte sich Gerhard Schröder noch stärker für eine Aufnahme der Türkei in die EU einsetzen sollen. Ich fürchte, dass dieses lange Hinhalten Erdogan zutiefst verletzt hat.-
Ich sehe in ihm einen Menschen mit einem mangelhaften Selbstvertrauen - darauf weist der Bau seines Palastes hin und das Referendum, das ihn zum mächtigsten Herrscher machen soll.

Auch seine Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, ist ein Zeichen für eine zutiefst unsichere Persönlichkeit.

Ich glaube, j e t z t sind alle Chancen einer Annnäherung an den Westen verspielt.
Und die Situation wird immer gefährlicher.
  • 08.04.2017, 20:04 Uhr
  • 6
@Edith,
die Annäherung an den Westen sind nicht erst seit kurzen verspielt.
Denn seit 1974 hält die Türkei den Nordteil des EU-Mitgliedstaats Zypern völkerrechtswidrig besetzt.
Etwa 2000 Un-Soldaten sind dort stationiert ...
  • 08.04.2017, 23:37 Uhr
  • 4
Man kann doch ein Land wie die Türkei mit einem solchen radikalen System des lieben friedens willen nicht in die EU aufnehmen? Die Türkei könnte bei angepassten Reformen sicher schon viele Jahre Mitglied in der EU sein, wirtschaftlich hätte sie sogar die Fähigkeiten dazu, stärker wie manch anderes EU Land, aber da gehört ja noch ein bisschen oder viel mehr dazu. Denke ich mal so,
  • 09.04.2017, 12:18 Uhr
  • 6
In meinem Kommentar habe ich Schröder erwähnt - damals war die Türkei in einem wesentlich besseren Zustand als heute.
Heute ist es unmöglich, an eine EIngliederuing der Türkei in die EU auch nur zu denken.
  • 09.04.2017, 13:04 Uhr
  • 4
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