wize.life
Neu hier? Jetzt kostenlos registrieren und mitmachen! Warum eigentlich?
Erst verlor er seine Lebensfreude, dann den Lebensmut

Erst verlor er seine Lebensfreude, dann den Lebensmut

Sonja Bissbort
20.09.2013, 11:56 Uhr
Beitrag von Sonja Bissbort

Immer mehr Menschen suchen in ausweglosen Situationen nicht mehr die Hilfe bei Angehörigen und Freunden, sondern in Drogen, Workaholismen und immer öfters auch greifen sie zum letzten und für alle schlimmsten Mittel. Sie legen Hand an sich an - der französische Philosoph Jean Améry hat diesem Phänomen ein beachtenswertes Buch und einen großartigen Essay gewidmet. Darin zeigt er auf, dass jeder Mensch dieses Recht hat, auch wenn wir in unserer modernen Gesellschaft den Freitod noch immer sehr zwiespältig betrachten. Allein der Begriff Suizid gibt der Tat etwas Schuldhaftes, erinnert das Wort doch an Genozid, also an Verbrecherisches. Freitod benennt uns eine andere Interpretationsmöglichkeit.

Ich habe Jochen gekannt

Deshalb habe ich auch seinen Namen geändert und alles, was auf ihn deuten könnte. Wir sind uns vor langer Zeit ein paar Mal an der Universität begegnet, dann liefen unsere Lebenswege auseinander. Vor ein paar Wochen erinnerte ich mich wieder an ihn, einfach so oder vielleicht war es auch so etwas wie Gedankenübertragung. Und weil mich die Frage nicht los ließ, was aus ihm geworden ist, begann ich zu recherchieren. Das Internet bietet dazu ja viele Möglichkeiten der Spurensuche.

Ich fand einen Nachruf. Erst las er sich wie ein Dankesbrief an jemanden, den man sehr schätzt und mag, geschrieben von jemandem, der den anderen sehr gut kannte und sehr lange begleitet hat. Wie schön, dachte ich, Jochens Leben war also glücklich und erfüllt gewesen und vielleicht würde ich auf diesem Weg auch noch seine Adresse oder eine Telefonnummer erfahren.

Der Absender sprach Jochen mit "Du" an und erzählte aus seinem Leben. Wie er schon während des Studiums aktiv war im Umweltschutz. Wie er danach in die Wirtschaft ging und Erfolge feiern konnte. Dass er dennoch seiner Heimat und der Natur verbunden geblieben ist. Ja, er sei, wann immer er Zeit hatte, mit auf Exkursionen gegangen, habe Kinder und Jugendliche für den Umwelt- und Naturschutz begeistert und galt allen als vorbildlicher Ehemann und Familienvater. Seine Frau hatte er erst mit über vierzig kennen gelernt, davor hatte er sich voll und ganz auf den Beruf und sein ehrenamtliches Engagement konzentriert.

Irgendwann passierte etwas.

Der Absender wusste offensichtlich auch nicht, was in Jochens Leben vorgefallen war, und seine Zeilen klangen fassungslos. Jochen hatte seinen 60. Geburtstag gefeiert, alle hatten ihn an diesem Ehrentag gefeiert. Er sah aus wie immer, vielleicht ein bisschen müde und angespannt, schrieb sein Weggefährte. Zwei Wochen nach der Geburtstagsfeier kam Jochen nicht wie geplant aus dem Büro. Er kam die ganze Nacht nicht. Seine Frau lag hellwach im Bett. Sie ahnte, dass etwas nicht stimmte. Jochen blieb nie einfach weg. Am nächsten Morgen stand die Polizei bei ihr vor der Tür. Der eine, ältere Polizist war ein Schulfreund ihres Mannes. Sie sah es in seinem Gesicht, bevor er etwas sagte. Jochen war von der Brücke gesprungen. Man hatte ihn heute morgen ganz früh gefunden.

Der Weggefährte erzählte am Ende seines Nachruf noch von der Beerdigung, wie er an Jochens Grab stand und dass er bis heute keine Antwort gefunden hat auf die Frage nach dem Warum. Keiner hatte eine Antwort darauf.

Obwohl ich Jochen nur flüchtig kannte und wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, fühlte und fühle ich eine große Betroffenheit. Es war der letzte Satz aus dem Nachruf, der sich letztlich wie ein Hilferuf anhörte: "Er hatte wohl seine Lebensfreude verloren. Und dann wohl auch seinen Lebensmut. Wir dachten immer, er kann alles. Wir dachten, für ihn gibt es nichts, was er nicht schafft."

Diesen Inhalt jetzt auf Facebook teilen!
Diesen Inhalt jetzt auf Twitter teilen!

28 Kommentare

Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Manchmal ist man eben so unendlich und entsetzlich allein und es braucht nur eine Sekunde sich für diesen letzten Schritt zu entscheiden
  • 26.11.2013, 18:59 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Da bewegt sich was in mir,aber damit muß man doch nicht an die Öffentlichkeit.
  • 15.10.2013, 20:52 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Waltraud, schon mal eine Depression gehabt ?
  • 07.10.2013, 15:09 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Schon wieder so ein tragisch-trauriger-pessimistischer-tränenabdrückender Beitrag. Passt so richtig hierher. Immer schön Probleme wälzen.

Meine Lebenserfahrung ist :
An der Lebensfreude muss man in erster Linie s e l b s t arbeiten.
Es gibt immer jemanden, der zuhört. Die Menschen sind grundsätzlich hilfsbereit.
Allerdings - es gibt auch viele Menschen, die s t ä n d i g jammern und sich selbst bemitleiden. Da kann niemand helfen. Und die finden dann auch keine Zuhörer mehr.
Es gibt Auswege.
Jedes Problem hat eine Lösung - dauert nur manchmal, diese zu finden.
  • 07.10.2013, 13:04 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
mein sohn wollte auch nicht mehr leben.er nahm sich vor fast 8 jahren mit 19 das leben
  • 05.10.2013, 23:45 Uhr
  • 0
Sonja Bissbort
Das tut mir sehr leid.
  • 07.10.2013, 10:04 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Genau wie der Absender wusste wohl keiner, was in ihm vorgegangen ist. Auch wenn Du Jochen nur flüchtig kanntest ist es traurig, dass Du ihn auf diese Weise verloren hast.
Meine Devise ist schon immer: Pflege Deine Freundschaften, und zwar regelmässig ! (von Bekannten will ich gar nicht sprechen, denn das sind meistens nur flüchtige Bekanntschaften und gehören nicht zu Freundschaften - das ist ein himmelgrosser Unterschied)
  • 22.09.2013, 11:37 Uhr
  • 0
Sonja Bissbort
Ja, in der Tat, ich habe es bedauert, dass wir uns im Leben aus den Augen verloren zu haben.
  • 07.10.2013, 09:58 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
wer kann das wissen, was der grund war, das leben zu beenden?
es ist auch möglich, dass er sehr krank war und niemanden belasten und sich auch nicht reinreden lassen wollte und darum seinem leben ein ende setzte.
  • 21.09.2013, 20:51 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Ich finde das sehr schlimm wenn sich Menschen im Leben nicht mehr zurecht finden ,und sich dann das Leben nehmen, Für die Angehörigen ist das sehr schlimm und fast nicht zuverkraften,es ist schon immer schlimm wenn man einen geliebten Menschen verliert aber dann auch noch so,das ist wirklich kaum zu verkraften
  • 20.09.2013, 22:44 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
es sind meist stumme hilfe rufe eines menschen der sich in dieser situation befindet
sie reden nicht viel über ihre gefühle wie es ihnen geht ,nach ausen hin hin scheint es ihnen gut zugehn...aber wie es in ihnen drin aus sieht zeigen sie nicht ...
warum auch meist fühlt man sich unverstanden..oder glaubt es das es so ist
erst wenn was passiert ist wie in diesen bericht wachen die menschen auf und fragen sich mensch warum hat er das getan ,hätte man ihn vielleicht mal direckt fragen sollen du sei mal ehrlich mit dir stimmt doch was nicht ,nur das zu fragen trauen sich viele nicht
  • 20.09.2013, 20:45 Uhr
  • 0
Sonja Bissbort
Als ich noch ein Kind war, hat in der Nachbarschaft ein Mann versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Zwei Mal. er wurde beide Male gefunden. Vielleicht wollte er auch gefunden werden. Irgendwie hat er weiter gemacht und sich dann noch einmal verliebt und mit seiner neuen Frau ein glückliches Leben geführt.
  • 21.09.2013, 08:10 Uhr
  • 0
Viele die den Mut am Leben verloren haben teilen dies ihren Angehörigen/Freunden durch Gesten und Verhalten mit, (weil sie innerlich auf Hilfe hoffen) nur werden diese Hinweiße nicht oder falsch gedeutet. In unserer heutigen Gesellschaft ist sich jeder zuviel mit sich selbst Beschäftigt,und Probleme nach aussen Tragen oder dies sogar mitteilen gilt als Schwäche.
  • 24.09.2013, 07:29 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.
Ich finde es immer erschreckend, wenn man im nachhinein dann verschiedene Anzeichen als Hilferufe erkennt, dann, wenn alles zu spät ist. Selbst bei denen, die ganz leise gehen, sind Ansatzpunkte erkennbar, wenn man mal anfängt, Ungereimtheiten oder Verdrießlichkeit festzustellen.- Aber Menschen mit einer kranken Seele, einer kranken Psyche, wie der Volksmund sagt, kann man in den seltensten Fällen helfen.
  • 20.09.2013, 19:02 Uhr
  • 0
Melden Sie sich jetzt mit Ihrem Nutzerkonto an, um Kommentare zu hinterlassen.