Immer mehr Menschen suchen in ausweglosen Situationen nicht mehr die Hilfe bei Angehörigen und Freunden, sondern in Drogen, Workaholismen und immer öfters auch greifen sie zum letzten und für alle schlimmsten Mittel. Sie legen Hand an sich an - der französische Philosoph Jean Améry hat diesem Phänomen ein beachtenswertes Buch und einen großartigen Essay gewidmet. Darin zeigt er auf, dass jeder Mensch dieses Recht hat, auch wenn wir in unserer modernen Gesellschaft den Freitod noch immer sehr zwiespältig betrachten. Allein der Begriff Suizid gibt der Tat etwas Schuldhaftes, erinnert das Wort doch an Genozid, also an Verbrecherisches. Freitod benennt uns eine andere Interpretationsmöglichkeit.
Ich habe Jochen gekannt
Deshalb habe ich auch seinen Namen geändert und alles, was auf ihn deuten könnte. Wir sind uns vor langer Zeit ein paar Mal an der Universität begegnet, dann liefen unsere Lebenswege auseinander. Vor ein paar Wochen erinnerte ich mich wieder an ihn, einfach so oder vielleicht war es auch so etwas wie Gedankenübertragung. Und weil mich die Frage nicht los ließ, was aus ihm geworden ist, begann ich zu recherchieren. Das Internet bietet dazu ja viele Möglichkeiten der Spurensuche.
Ich fand einen Nachruf. Erst las er sich wie ein Dankesbrief an jemanden, den man sehr schätzt und mag, geschrieben von jemandem, der den anderen sehr gut kannte und sehr lange begleitet hat. Wie schön, dachte ich, Jochens Leben war also glücklich und erfüllt gewesen und vielleicht würde ich auf diesem Weg auch noch seine Adresse oder eine Telefonnummer erfahren.
Der Absender sprach Jochen mit "Du" an und erzählte aus seinem Leben. Wie er schon während des Studiums aktiv war im Umweltschutz. Wie er danach in die Wirtschaft ging und Erfolge feiern konnte. Dass er dennoch seiner Heimat und der Natur verbunden geblieben ist. Ja, er sei, wann immer er Zeit hatte, mit auf Exkursionen gegangen, habe Kinder und Jugendliche für den Umwelt- und Naturschutz begeistert und galt allen als vorbildlicher Ehemann und Familienvater. Seine Frau hatte er erst mit über vierzig kennen gelernt, davor hatte er sich voll und ganz auf den Beruf und sein ehrenamtliches Engagement konzentriert.
Irgendwann passierte etwas.
Der Absender wusste offensichtlich auch nicht, was in Jochens Leben vorgefallen war, und seine Zeilen klangen fassungslos. Jochen hatte seinen 60. Geburtstag gefeiert, alle hatten ihn an diesem Ehrentag gefeiert. Er sah aus wie immer, vielleicht ein bisschen müde und angespannt, schrieb sein Weggefährte. Zwei Wochen nach der Geburtstagsfeier kam Jochen nicht wie geplant aus dem Büro. Er kam die ganze Nacht nicht. Seine Frau lag hellwach im Bett. Sie ahnte, dass etwas nicht stimmte. Jochen blieb nie einfach weg. Am nächsten Morgen stand die Polizei bei ihr vor der Tür. Der eine, ältere Polizist war ein Schulfreund ihres Mannes. Sie sah es in seinem Gesicht, bevor er etwas sagte. Jochen war von der Brücke gesprungen. Man hatte ihn heute morgen ganz früh gefunden.
Der Weggefährte erzählte am Ende seines Nachruf noch von der Beerdigung, wie er an Jochens Grab stand und dass er bis heute keine Antwort gefunden hat auf die Frage nach dem Warum. Keiner hatte eine Antwort darauf.
Obwohl ich Jochen nur flüchtig kannte und wir uns viele Jahre nicht mehr gesehen hatte, fühlte und fühle ich eine große Betroffenheit. Es war der letzte Satz aus dem Nachruf, der sich letztlich wie ein Hilferuf anhörte: "Er hatte wohl seine Lebensfreude verloren. Und dann wohl auch seinen Lebensmut. Wir dachten immer, er kann alles. Wir dachten, für ihn gibt es nichts, was er nicht schafft."
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